Der letzte Flug


«Lasse dein Licht leuchten.» Dieser Satz aus dem Johannes-Evangelium beschreibt zwei unserer Mitglieder. Unser unermüdliches Ehrenmitglied Ruth Dreier die diesen Monat verstorben ist und Grossrat Dr. Yahya Hassan Bajwa, der den Profaxpreis erhielt und aus dem Aargauer Grossen Rat austreten musste.

Ruth Dreier - Foto von Leo Häfliger

Ruth Dreier – das Bild das kurz vor ihrem Tod entstand wird uns freundlicherweise von Leo Häfliger, Buch- und Offsetdruck Werner Schrumpf AG, zur Verfügung gestellt

«Lasse dein Licht leuchten.» Eigentlich hätte Ruth Dreier einen viel längeren Text auf dem Leidzirkular verdient. «Nach vierzehn Jahren Beschäftigung mit dem SRV (Schweizerischen Evangelischen Volksblatt) habe ich im Moment noch keine Musse, Bilanz über diese Zeit zu ziehen. Alles in allem wars eine Bereicherung all der Jahre seit meiner Pensionierung.» Ende 2004 schrieb sie dies in der letzten Ausgabe. Einer Zeitungschrift die im 138. Jahrgang eingestellt wurde. Ruth Dreier hätte sich noch jahrelang weiter eingesetzt. Dazu braucht es aber Text-Lieferanten. Genau gleich wie in einem Blog. Ein Licht ist zu sehen. Demnächst schreibt auch der Fernsehpfarrer Andreas Peter. Er wird nicht aus Bülach schreiben, er wird sich vom Neumünster melden. Frischprodukte, nichts aus Einmachgläsern.

An dem Tag, als ich diese Zusage erhielt, hätte ich eigentlich vorgängig bei ihnen all die vielen Unterlagen des SRV abholen wollen. Geplant war es, nur das Datum stand noch nicht fest. Sie haben mich anfangs Mai angerufen. Ich war in Frankreich. Dann rief ich einige Male an. Ich dachte, sie seien nun in Frankreich. Eile ist nicht angesagt. Es sind ja nicht dringende Neuigkeiten, wir wollen der Nachwelt nur einiges erhalten. Zu finden wird das Wichtigste (wie immer) im Staatsarchiv von Bern sein. Keine weiss das besser, als Ruth Dreier, die jahrelang in unserem Vorstand mitgearbeitet hat. Aber niemand weiss anscheinend, wann sie dazu gestossen ist. Und sie hat uns immer unterstützt. Arbeit abgenommen, organisiert, Buchhaltungen geführt und sie konnte nicht nur administrativ sondern auch redaktionell unsere Zeitung herausgeben.

Und sie hat uns finanziell unterstützt, wollte, dass im Blog der Geist des SRV weiterlebe. Heuer sozusagen im 146. Jahrgang. Fünf Jahre mehr, als es die Vereinigung gibt. Meist hat sie im Hintergrund gearbeitet. Sich nicht vorgedrängt. Nicht ein einziges Bild in meiner Sammlung, wo sie alleine zu sehen ist. Wir holen dies nach den Ferien von Herrn Häfliger nach. Wir dürfen sein Bild von Ruth Dreier veröffentlichen, das kurz vor ihrem Tod gemacht wurde. Vielen Dank, auch für die jahrelange Arbeit beim Druck des SRV im Team mit Frau Dreier.

Ruth Dreier

Ruth Dreier zusammen mit Jean-Claude Cantieni an der Burri-Tagung in Täuffelen.

«Der Distelfink – (Stieglitz)

… Doch eines Tages erhob sich ein stürmischer Wind, der immer stärker wurde und schliesslich erbarmungslos während drei Tagen und Nächten pausenlos wütete und an Türen und Fenstern rüttelte. Machtlos schauten wir vom geschützten Haus aus zu, für unsere Distelfinken zitternd. Nach dem Sturm hörten wir sie nicht mehr. Aber am Boden lagen zwei zierliche Vogelnestchen, noch eingeklemmt in den Gabeln dünne Zweige.

Entsetzten über die für die grosse Welt winzigkleine Katastrophe und die Grausamkeit der Natur packten uns, und iwr trauerten um ein Stück wunderbares Leben, das wir lieb gewonnen hatten, und das uns bis heute fehlt, dennn die lieblichen Vögel sind nie mehr zurückgekehrt …»

Ruth Dreier – ganzer Text siehe unten im 1. und 2. Teil

SRV 4 2003 Teil 1SRV 4 2003 2. TeilSRV 4 2003 3. Teil – als pdf öffnen

Auch wenn Ruth Dreier nicht mehr zurückkehrt, wir behalten sie in besster Erinnerung.

«Der letzte Flug» im Grossen Rat hat unser Revisor Dr. Yahya Hassan Bajwa gemacht. Er gibt «zuviel» Unterricht und muss aus dem Rat austreten. So will es das aargauische Gesetzt. Nicht eben liberal. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Grossräte, die Lehrer sind, begeistern können. Dr. Schmied seinerzeit war der einzige, der mich das erste mal für die französische Sprache überzeugen konnte. Das war im Kanton Bern schon lange möglich. Beim Bericht über seinen Rücktritt in der Aargauer Zeitung erstaunt zumindest ein Kommentar von Karin. Schrecklich, wie heute ohne Wissen, anonym und gemein Meinungen mitgeteilt werden. Es lebe die Feisspuck-Zeit.

Yahya, die Foto, die du in Facebook brauchst, kennen wir vom Julier-Pass her. Du hast bei dieser Bergpredigt über «Betet für alle, die in Regierung und Staat Verantwortung tragen» gesprochen. Vielleicht vorausahnend habe ich dir an diesem Morgen jenes Plakat geschenkt. Nimm es nicht tragisch, dass du aus dem Grossen Rat geflogen bist. Bajwa heisst ja der Adler, der Raubvogel mit dem scharfen Blick. «Lasse dein Licht leuchten», sprach Johannes der Täufer – oder für Muslims eben Yahya, so die Übersetzung.

Yahya Hassan Bajwa

Dein Porträt habe ich … Hassan heisst übrigens «der Schöne». Danke, dass ich libref. bei der Preisverleihung des Profaxpreises 2012 vertreten durfte. Wir gratulieren dir und LivingEducation.org zu diesem Erfolg. Wir hoffen, dass du noch einige Male mit uns über Menschenrechte diskutieren wirst. Und Inputs bringst, was wir via IARF in Genf zu den Menschenrechten vortragen werden. Unsere Ansprechperson für Genf ist der Pfarrer Andreas Peter. Ihn haben wir im Vorstand zu unserem Mitglied gewählt. Das ist nicht ganz statutenkonform, aber die nächste Mitgliederversammlung wird dies garantiert mit Akklamation nachholen. Gute Gelegenheiten muss man am Schopf packen.

Yahya Hassan Bajwa und H.E. Muhammad Saleem

Yahya und His Excellency Muhammad Saalem, Botschafter der Islamischen Republik Pakistan, der seine Glückwünsche überbrachte.

Yahya und die Schüler vom Zugerberg

Yahya und ein kleiner Teil seiner Schüler – die vom Institut Montana auf dem Zugerberg. Ich habe selten einen Lehrer gesehen, der von seinen Schülern so herzlich begrüsst wird.

Der Tod und das Leben sind manchmal so nah beisammen. Der «Distelfink» erinnert mich von der Art her ans «Amseli». Yahya möge als Adler noch oft in die Lüfte steigen und seine Schwingen einsetzen.

Einen Rückblick auf die vergangen Jahre bei libref.ch möchte ich diesmal nicht wiedergeben. Nur soviel zur Erinnerung. Nächsten Monat sind wir das siebte Jahr auf dem Blog und somit zusammen mit dem Schweizerischen Reformierten Volksblatt seit 146 Jahren ununterbrochen in den öffentlichen Medien vertreten. Im Jahre 2016 sollten wir das 150-jährige Jubiläum feiern.

© libref – Text und Foto: Stephan MartiFinanzblog – Foto von Ruth Dreier: Leo Häfliger

"Albert Schweitzers unheimliche Nähe zur DDR"


… weiterlesen in der «Bernerzeitung«.

Bitte beachten sie die Kommentare. Bis auf einen wird alles als Miesmache hingestellt. Einer will die Blindheit gegenüber Schweitzer aufdecken. Surfen sie im Internet herum, was der «Gegner» so alles für Spuren hinterlässt. Ich denke, im Kapitel Schweitzer gäbe es andere Sachen, die man anschauen müsste. Nicht Geschichtsforschung, was heute abläuft. «Es kann vorkommen, das Nachkommen, falsch rauskommen», hat mir vor kurzem eine Stechmücke gesagt.

Das wäre doch was zum Recherchieren, an den Tag zu legen. «Was geschieht mit dem Erbe?» Ja, inklusive der politischen Briefe, die eigentlich den kleinsten Teil ausmachen dürften.

Afrika ist weit weg. Wer weiss, wie es heute dort aussieht? Umgekehrt ist vielleicht auch gefahren. Aber Schweitzer brauchte Geld. Nicht für sich, wie das heute meist der Fall ist. Er wollte helfen. Und hat geholfen.

Spendensammeln ist Marketing pur. Und anscheinend hat er die damaligen Möglichkeiten genutzt. Heute sprechen wir von Bill Gates als Helden, wie der spendet. Aber im Grunde genommen hat er ja fast die ganze Menschheit über den Zaun gezogen. Wer hat nicht schon viel Geld für Microsoft ausgegeben und erhält jedes mal eine alte Lösung, die neu aufgemotzt ist … und man sich zuerst zurechtfinden muss, wo was gesucht und gefunden werden kann. Gates setzt nur einige Prozent wohltätig ein … Schweitzer hat sein Leben geopfert.

Dann ist vermutlich noch etwas, was Schweitzer reizte. Die medizinische Unterstützung. Im Osten wurden die Mediziner anders ausgebildet, als im Westen. Ich würde es als ganzheitlicher einstufen. Mit weniger Finanzen. Kuba lässt heute noch grüssen. Und ein kleiner Tipp. Wenn sie mal einen gesundheitlichen Befund haben, den man im Westen nicht heilen kann, dann suchen sie sich einen alten DDR-Mediziner aus … ich wüsste, zu welcher Aerztin ich gehen würde. Aber mir ist bekanntlich immer zu helfen.

So, nun wäre es an der Zeit, dass andere, Eingefleischte schreiben. Wer den Mut nicht hat, das Kapitel Schweitzer im eigenen Namen zu vervollständigen … wir können auch Texte entgeisten … statt dem Ghostwriter stellen wir ihren Text um, dass man den Schreiber nicht erkennt. Denn in diesem heilklen Fachgebiet kennt man die Schreibweise.

Liberale wehrt euch. Oder seid auch ein bischen links. Und wer früher links war, der ist heute in der Mitte und da wären wir schon bei „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn

Nachdenken und feiern


Die Auffahrt oder Christi Himmelfahrt darf uns zum nachdenken bewegen.

Nachdenken 1

Nachdenken 1

Nachdenkien 2

Ganz herzlich gratulieren wir LivingEducation und seinem Präsidenten und unserem Mitglied Dr. Yahya Hassan Bajwa zum profaxpreis 2012. Die Preisübergabe findet am 14. Juni um 18:30 Uhr in der Aula des Schulhauses Pfaffechappe in Baden statt.

Vor einem Jahr:
Religionsunterricht in Chur

Vor 2 Jahren erschienen:
Bleibt die reformierte Schweizer Kirche liberal

Vor 3 Jahren erschienen:
Bericht aus Pakistan … was nicht in allen Medien steht – ein Beitrag von Dr. Yahya Hassan Bajwa

Vor 4 Jahren erschienen:
Längs u breit – Pedro Lenz und Werner Aeschbacher

Vor 5 erschienen:
Fast ein Minarett …

Vor 6 Jahren erschienen:
Rat der Religionen gegründet

© libref – Text und Foto: Stephan MartiFinanzblog

„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn“


Ein Thema, das die heutige Bevölkerung interessiert. Die Dampfzentrale war restlos ausgebucht. Lesen sollten die Beiträgevor allem jene, die die heutige Kirche mitgestalten. Auch hier zeichnet sich ein Umdenken an.

Der Beitrag der Gewinnerin Sabine Frambeck beim 6. «Bund-Essay-Wettbewerb» ist noch nicht aufgeschaltet. Ein pfiffiger, wortspielerischer Aufsatz um das Wort «Gott». Ihr Kommentar bei der Preisverleihung: «Oh mein Gott, ich hab gewonnen» und ihre Schlussworte beim preisgekrönten Essay: «Amen – fuck.»

Und der Moderator, der Komiker Müslüm, muss bei einer Pubikumsabstimmung feststellen, dass mehr Zuschauer ein Facebook-Account haben, als dass es welche gibt, die an Gott glauben und eigentlich möchte er jetzt Kebab essen.

221 eingereichte Beiträge. Ein tolles Resultat. Mein Zuschauer-Nachbar hat auch geschrieben. Sein Beitrag würde ich gerne hier wiedergegen. Vielleicht liest er es. Er schreibt unter anderem darüber, dass Leute, die an Gott glauben, den Gott entweder in sich fühlen oder ausserhalb von sich. Mein Gott – falls es den gibt – wäre in mir zu suchen.

Aber lesen sie doch selbst, was ich geschrieben habe. Ich bin so liberal, dass ich sogar die Stellung der Liberalen im religiösen Umfeld neu platzieren möchte. Nicht mehr in der Mitte oben – eher rund ums «Fadenkreuz».


1. Ein Durchschnittsgott?

„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn“. Eine Durchschnittsmeinung? Wir wissen es nicht. Viele, gar die meisten die so denken, kann man nicht statistisch erfassen. Oder doch? Ist es am Ende die Differenz zwischen den Kirchensteuerzahlenden und den Kirchenbesuchern. Davon gibt es jede Menge, zumindest im Kanton Bern. Ja, die Berner Kirche kenne ich besser, trotzdem ich im nahen Ausland gemeldet bin. Das ist auch so eine Glaubenssache. Warum bist du nicht nach Südfrankreich gezogen? Warum um Gottes Willen gerade in den Kanton Aargau? Wenn es diesen Gott wirklich gibt, dann haben die Aargauer und die Ber-ner den gleichen. Wetten!

Aber lasst mich doch über den Durschnittsgott schreiben. Den kennt nicht einmal Bill Gates Microsoft. Der mit roter Wellenlinie unterstrichene Durchschnittsgott existiert in Langenthal. Oder eben vielleicht auch nicht. Die Langenthaler, das sind hochanständige Durschnittsmenschen – sagen die Statistiker. Mancher wäre froh Durchschnitt zu sein. Zumindest die Anleger, die in göttliche Indexware investieren. Mancher mag sich mit dem Durchschnitt nicht zufrieden geben.

Rund sieben Jahre war der Durchschnittsgott mein ehrenamtlicher Chef. Ich CEO Church. 7 haben die heisse Suppe ausgelöffelt, 7 in der Kirche gelobpreiset, gepoltert und orgelgetastet, 7 haben administriert und verwaltet, 7 gereinigt, geöffnet, Kerzen angezündet und wenn Spannung angekündigt wurde, so kamen 70 in die Kirche oder ins Kirchgemeindehaus. Und im Jahresschnitt hat man so an die 700 verschiedene Gäste und Mitwirker in der Kirche angetroffen. Und dann hatten wir noch 7000 andere Kunden. Die traf man höchstens eher zufällig an einer Taufe, Hochzeit oder bei Beerdigungen .

Für viele dieser 7000 trifft der Satz „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn“ vermutlich zu. Nicht nur in Langenthal. Überall auf der Welt. Das sind beileibe keine Gott losen Menschen. Die stehen dem Glauben näher als mancher, der sonntäglich in einen Predigtsaal rennt, oder diejenigen, die am Freitag rennen, Frei(tags)-übungen machen, am Samstag rennen, den Boden Küssen, Schlangen beschwören, Götter duzendweise zum segnen auffordern.

Logisch betrachtet gibt es keinen Durchschnittsgott. Wenn es einen Gott gibt, dann gibt es nur einen. Nur einen einzigen. Für jeden den gleichen. Ob reformiert oder katholisch, landes- oder freikirchlich organisiert oder sonst wie Christ, Jude, dem Islam, Hinduismus oder Buddhismus und weiteren angehörend. Den vermisse ich. Manchmal. Den vermissen viele andere auch. Vielleicht sogar immer.

2. Gott ist nicht durchsichtig, aber transparent!

„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn“. Wie sieht er denn aus? Schwarz und weiblich – wer weiss. Viele begreifen nur, was sie sehen oder nachvollziehen können. Und genau das ist in der heutigen Zeit schwierig. Sich einen Gott vorzustellen, von dem man sich kein Bildnis machen soll ist viel einfacher, als die heute Um- und Mitwelt zu kapieren. Die meisten wolllen nur kopieren. Geld- und Bonigier, Finanz-, Euro- und Dollarmisere, all dies kopfen wir nicht mehr. Ganz zu schweigen von unsinnigen Kriegen und den technischen Energiepannen. Technisch? Menschlich wäre wohl angebrachter. Und kein Gott der aufrüttelt. Viele, wenn nicht gar die meisten vermissen ihn manchmal, immer öfters. Wieso lässt er das zu? Und gottlob keiner, der am gierigsten zu wachstumsstärker und maximierender aufruft.

Danke, dass sich zumindest einige in der Kirche die Machenschaften der heutigen Zeit nicht gefallen lassen. Sich zu Wort melden. „Reformiert“ sei Dank. Die reformieren wirklich. Mutig? Nicht wirklich. Aber ehrlich. Die denken, was die meisten von uns insgeheim denken. Die Kirche sollte sich mit dem Alltag auseinander setzen. Durchleuchten und Transparenz schaffen, nicht undurchsichtig sein. Eine doppelte Verneinung – genau genommen ist die heutige Kirche durchsichtig, nicht transparent. Eine Wortklauberei, werden jetzt viele sage. Die Sprache ist manchmal genauso unpräzise, wie Politiker und Kirchenpolitiker.

Etwas mehr für die „7000“ statt die „700“ tun. Sonst laufen die auch noch davon. Ich habe schon etliche Predigten über mich ergehen lassen. Wer nicht hingeht, muss sich dies nicht gefallen lassen. Es gab auch spannende Predigten. Die sind aber selten und leider im Kirchenzettel nicht als solche gekennzeichnet. Dann loben wir uns doch das sonntagmorgendliche Frühbad. Wenn es zu transparent ist, kippen wir halt etwas göttliche Lotus-Badeessenz dazu. Sprudeln und schäumen lassen, das macht Spass. Lassen wir doch Gott öfters sprudeln, die Kirche soll überschäumen. Ein richtiges Gedränge habe ich nur einmal in kirchlichen Räumen erlebt. Kaum zu glauben, ja glauben, wir haben eine singende Schlange angebetet, eine Anakonda genau genommen. Vielleicht würden „a der schöne grüne Aare na“ mehr Menschen auf einem harten Velosattel Ausschau nach Gott halten, als sonntags auf der harten Kirchenbank.

Wir brauchen einen knallbunten, farbigen Gott, einen Gott an dem wir bildlich gesehen Freude haben. Einen, der begeistert, den wir echt anbeten können. Wir brauchen weder einen durchsichtigen und schon gar keinen undurchsichtigen Gott. Ich vermisse aber manchmal einen transparenten Gott. Oder sollte man besser sagen, ich vermisse manchmal eine transparente Kirche. Und viele andere wohl auch. Einige vermutlich nicht nur manchmal, sondern öfters, mehrheitlich oder gar immer. Sonst würden sie ja nicht aussteigen. Oder umsteigen.

3. Gott ist nicht liberal – Gott im Fadenkreuz

„Ich glaube nicht an Gott, aber zumindest manchmal vermisse ich ihn“. Die Kirche ändert sich zu wenig – schnell zumindest. Was soll es, meine ist ja über zweitausend Jahre alt und hat eben wieder Geburtstag gefeiert. Unbefleckt soll es damals von statten gegangen sein. Eine Kuh war zugegen. Heute ist dieses Fleckvieh nicht nur unbefleckt, die sind gar genmanipuliert. Die Welt wäre vermutlich besser herausgekommen, wenn man Jesus im Jahre Null geklont hätte. Von solchen Typen bräuchte es viel mehr. Der war modern und hat begeistert. Für Friede, Freude, Eierkuchen. Heute begeistern welche noch für Krieg, Rap und LC1-Joghurts. Rap ist ja nicht schlecht, das heisst klopfen oder pochen – sinnvoll, wenn sinnvoll gepocht und nicht verklopft wird.

Nehmen wir unseren Gott doch mal ins Fadenkreuz und stellen ihn dorthin, wo er unserer Meinung nach hingehört. Schauen wir uns das bekannte Fadenkreuz der politischen Masse an. Links ist links, rechts ist – sie erraten es – rechts und unten konservativ. Kaum zu glauben, obschon wir diese Tätigkeit, glauben, ja eigentlich in der Kirche machen sollten, oben bezeichnen alle mit „liberal“. Bei dieser multidimensionalen Skalierung, die uns populär oder je nach Einstellung popu-plär von Smartvote omnipräsent sekundengenau nachgeführt vor Augen gehalten wird, liberal ist immer oben. Und oben ist Gott. Und Gott, wenn es den allenfalls doch gibt, ist nicht oben. Zumindest nicht liberal, hoffentlich aber modern, zukunftsgerichtet.

Das Gegenteil von Links ist Rechts. In der Kirche, dem Glaubensempfinden genau genommen, bei libref.ch haben wir es Kirchen-Politische Ausrichtung genannt, geht es von links vom Freidenker über das Fadenkreuz rechts nach evangelikal. Genau genommen ist es nicht das eindeutige Gegenteil. Das Gegenteil von Konservativ ist aber auch nicht Liberal. Eher modern, an die Zukunft glauben und nicht am Alten festhalten. Zukunftsgerichtet eben.

Huch, wenn das veröffentlicht wird, dann gibt es Haue. Liberal nicht oben! Aber einer muss es doch schliesslich sagen und auch mal schreiben. Liberal ist schon lange nicht mehr oben. Eher in der Mitte … und den Spruch habe ich schon öfters platziert: „Mancher Liberale ist nicht mit der Zeit gegangen und wurde Konservativ“. Böse?! Nein, leider der Wahrheit entsprechend. Liberal ist nicht mehr immer das, was es war. Vielleicht müsste ich einer Gattung angehören, die sich besser nicht „libref“ – liberal, reformiert – nennt. Dringend müssten sich eigentlich dieses Überbleibsel umbenennen – futref. Futuristisch, reformierend. Oder zumindest „mitref“ – mit der Zeit gehend, reformend, ändern, überdenken. Wie die schweigende Mehrheit. Eben mit der Zeit gehen und sonst gehen sie mit der Zeit. Genau wie die Kirche sind die heutigen Liberalen – langsam aussterbend. Das müsste Frau und Mann ändern. Gott, glaube ich, wird höchstens zuschauen. Die schweigende Mehrheit muss nicht an die Macht kommen. Aber sie muss wahr und nicht als Ware genommen werden. Sonst werden in Zukunft noch wesentlich mehr austreten – einige davon nur umtreten, weil sie in Zukunft intensiver an Gott glauben.

Gott im Fadenkreuz. Nicht in einem faden Kreuz, nicht am Kreuz und nicht nur an einem Faden. Salzig, würzig, pfeffrig soll Gott oder doch eher unsere Kirche sein.

4. Gott – barmherzig oder knallschwarz

Barmherzig, was heisst das eigentlich. „Herz“ kennen wir, hoffentlich läuft es noch lange. Rund, „zig“ Millionen Mal schlägt es. Bei den meisten absolut zuverlässig, bei der Mehrheit der Leser über eine Milliarde mal. Eine unvorstellbare Meisterleistung. Gibt es am Ende doch einen Gott? Das gibt doch ein wenig Herzklopfen, wenn man sich überlegt, wie oft schon bei allen Lebewesen die jemals gelebt haben, das Herz geklopft hat. Das ergibt eine Zahl mit zig Nullen. Und trotzdem haben wir Mühe, uns einen Gott vorzustellen, den wir uns ja gar nicht vorstellen sollen. Und fragen können wir ihn auch nicht.

Fragen wir doch den Duden. „Barm“ nähme mich noch Wunder. 0 Treffer – oder meinten Sie: arm, warm, Darm? Vielen wird Gott erst mit solchen Worten in den Sinn kommen. Wenn sie arm sind, ihnen wirklich kalt ist oder der Darm gar nicht mehr will … dann denken sie plötzlich an Gott. Ja manchmal vermisst man ihn. Vielen muss es zuerst schlecht gehen. Ich denke, das ist auch nicht schlimm, sonst hätte Gott das ja anders lösen können. Ja und wer schwer erkrankt ist, der denkt auch nicht an die Barmherzigkeit, dass dies nicht hätte geschehen sollen. Es soll aufwärts gehen, zumindest nicht so schmerzhaft sein. Ja und irgendwann mal kommt was für alle kommen muss. Das Leben ist tödlich. Knallschwarzer Humor? Nein, Realität. Und so gesehen erstaunt es niemanden, wenn der Glaube an Gott geraubt wurde. Vielleicht ist es ja nur der ethische Zusammenhalt der Menschheit, der uns das Gefühl eines Gottes, einer gemeinsamen Kraft, vermittelt.

Den Beweis, dass es Gott gibt oder nicht gibt, den kann ich nicht erbringen. Wenn sie aber mal ganz oben angeklopft haben und dann doch wieder Werbung am Fernseher schauen dürfen, dann überlegen sie etwas unterschiedlicher. Nicht, dass jetzt der Kapselkaffe beim vierhändigen Spiel an einem Flügel vorgezogen würde. Wenn aber Petrus zu George Clooney spricht „It’s not your time“, dürfte es auch für den hart gesottenen Gottesverachter ein kaltes Schlottern ums Herz geben. Er wird unsicher. Gibt es wirklich keinen Gott? Und wenn doch, dann für alle den gleichen.

Und hier noch der Link zu unseren eigenen Preisträgern: 140-jährige Geschichte – Gratisdownload der Essays des prix libref. 2011 über das Thema «Kann das Recht Religion vor liberalem Horizont beschränken?»

Vor einem Jahr:
Bistum Chur ruft Vermittler aus dem Vatikan

Vor 2 Jahren erschienen:
Nationalforschungsprojekt – NFP 58

Vor 3 Jahren erschienen:
Calvin, Kapitalismus, Zins und Religion

Vor 4 Jahren erschienen:
Flugzeugentführer und Entführte – keine Spur von Hass

Vor 5 erschienen:
«Kein Gütesiegel für die Frommen»

Vor 6 Jahren erschienen:
Menschenrechtsrat beschlossen

© libref – Text: Stephan MartiFinanzblog

"Markus in Tagebuchnotizen"


Einen allzuvertrauten Text in fremder und modernisierter Sprache gelesen – voll ungewohnter, zum Aufhorchen zwingender Ausdrücke – packend wie einst bei der Erstlektüre eines Jugendbuchs, wo das Erzählte in Identifikation mit der Hauptperson selber erlebt wurde.

Ein Beitrag von Hans R. Schwarz-Ammann aus Porto Ronco, dem Nachbardorf von Brissago … vermittelt von unserem Vorstandsmitglied Dr.Verena Burkolter.

Vorbemerkt:

forse di qualche interesse per qualcuno:
l’altro ieri è venuto a termine un piccolo saggio elaborato durante lettura e studio del testo bibblico in lingua straniera («in lingua corrente, LDC ABU 1994»), pieno di locuzioni scuotanti e tanto diverse da quelle (Luther, Zürcher) memorizzate in gioventù… in breve: avevo provato di leggere Marco 1 ecc. come «diario del Gesu da Nazareth»

… einen allzuvertrauten Text in fremder und modernisierter Sprache gelesen – voll ungewohnter, zum Aufhorchen zwingender Ausdrücke – packend wie einst bei der Erstlektüre eines Jugendbuchs, wo das Erzählte in Identifikation mit der Hauptperson selber erlebt wurde

… der Frage nachgehend, was wohl das persönliche Erleben und Anliegen in jenen ersten Auftritten und Begegnungen sein konnte, welche den Inhalt der ursprünglichen Erzählungen ausmachten, die dann Markus als Gesamtberichterstattung und Biographie redigiert zusammengestellt und dabei an das Bild einer volkstümlichen Retterfigur agenpasst hat, wobei andere Interpretationen, aus Zeugnisberichten über das spätere Geschehen, auch schon auf den frühesten Anfang zurückprojiziert wurden…,

Gedanke – Einfall – Berufung – Erkenntnis – Verwirklichung

ein Versuch, nachempfindend das subjektive Erleben der Hauptperson in Markus Kapitel 1 etc. tagebuchartig aufzuzeichnen – (Text: «in lingua corrente, LDC ABU 1994»)

– …

– gehört, es sei am Jordanufer einer aufgetreten, die endgültige Wende zum Bessern versprechend, für Leben und Befinden des Einzelnen, des Volkes und der ganzen Menschheit;
in Gehaben und Rede auf alte Prophetenvorbilder und das suggestive Reinigungsbad zurückgreifend

– das wäre doch selber einmal von nahem zu beobachten

– das Ereignis am Fluss besucht: der Ruf dieses Johannes zur Neuausrichtung des je eigenen Lebens, zur radikalen Umkehr, zum Aufgeben aller abwegigen angst- und schuldbelasteten Haltungen, ist wohl die richtige Lösung bei unserem von Hindernissen verstellten Begegnungsfeld mit dem Ewigen

– und einleuchtend als einzig wahres Heilmittel für den Menschen von heute und für die ganze Gesellschaft; unter Abkehr von den etablierten Religions-Institutionen («discendenti di Abramo» Mt 3/9);
stattdessen also: individuelle Kurskorrektur («cambiate vita, e Dio perdonerà» (1/4), alles begradigend («spianare il terreno accidentato»/ das holperige Terrain ausebnend Is.40/4), und dadurch wieder auf den Weg des Herrn einschwenkend und in seinen göttlichen Be-Reich eintretend («il tempo è venuto – il regno vicino – credere il lieto messaggio»/ die Zeit ist da, das Reich nahe 1/15)

– was dann ganz praktisch bedeuten mag: bei jedem Handeln und Begegnen jene uralte Empfehlung zu befolgen, nämlich die eigenen Ansprüche gegen jene der andern abzuwägen, und Leben und lebensnotwendige Güter («abiti, viveri» Lc 3/11) miteinander zu teilen; hier und jetzt und täglich neu, freiwillig und nicht strafbedroht; zum allgemeinen Wiedererkennen des ursprünglichen Weltplans und entsprechender Zukunftsmöglichkeiten

– und nun auch persönlich die Waschung und das Auftauchen mitgemacht, und im Heraussteigen, wie neu geboren, aufblickend plötzlich gewusst: an dieser Erneuerungs-Bewegung gilt es teilzunehmen und auch selber zur weiteren Ausbreitung mitzuhelfen

– in die Einsamkeit zurückgezogen, um in eigener Sinnsuche und Selbstfindung zu überdenken, ob und wie sich eine solche Berufung und Wirksamkeit als Lebensentwurf durchsetzen liesse, weder in der Rolle eines Wunderwirkers noch als umjubelter Held oder glanzvolle Herrscherfigur (con «ricchezze»/alle Reichtümer Mt 4/8)

– und jetzt hat jener Johannes, in seiner Kompromisslosigkeit, mit den Mächtigen Schwierigkeiten bekommen und ist im Gefängnis blockiert; es wirkt wie ein persönlicher Anstoss: nun gilt es ernst: seine Arbeit ist dringend fortzusetzen

– also auf nach Galiläa, an die Versammlungsorte («insegnare»/lehrend 1/21), mit Erklärungen die Leute ermunternd, begeisternd und anfeuernd («con spirito e fuoco»/mit Geist und Feuer Mt 3/11), gerade jetzt Wort, Gegenwart und Botschaft Gottes und seine darin zugesagte Schuldentilgung anzunehmen und dem Ruf zur individuellen Lebensänderung Folge zu leisten, für neue Zufriedenheit, Wohlfahrt und Daseinswürde aller

– zur weiteren Ausbreitung des Neuen sind Mitarbeiter nötig: Leute aus dem Volk, zum Beispiel Fischer, bereit, mit dem Angebot der Botschaft in der anonymen Menge Interessenten zu fangen («gettarono le reti»/Netz werfend 1/16), und andere, die auf der Strasse und im Alltagsverkehr und Handel sie ansprechen können («passando dove si paga»/an Zollstelle 2/14)

– und es zeigt sich, wie die Hörer mit wachem Interesse («sbalorditi»/verblüfft 1/27) auf die gegenwartsbezogene Botschaft reagieren, anders als beim eintönig wiederholten Vortrag («spesso ripetono» Lk 5/33) trockener Gesetze und altgewohnter Texte, welche auf eine unsichere ferne Zukunft ausgerichtet sind, und nicht für den eigenen nächsten Schritt in der nächsten Umgebung ermuntern

– da war ein aufmerksamer Fallsüchtiger, der die Herausforderung des Neuen und ebenso die entstehende Spannung gegenüber der traditionellen Lehre vom königlich-göttlichen Zukunfts-Helden so intensiv spürte, dass er sich in einem seiner angsterregenden Anfälle brüsk aufbäumte: erst hellsichtig das Göttliche in der neuen Verheissung und ihrer Verkündung als Einheit zu sehen versuchte, aber dann, befangen im persönlichen Konflikt seiner Krankheit, sich heftig dagegen stemmte («che vuoi da noi»/was willst du von uns 1/24); indessen nach Ermahnung und mitmenschlicher Zuwendung war er alsbald beruhigt und wieder vernünftig und umgänglich geworden

– und ähnlich nachher, im Haus des ersten Mitarbeiters, bei seiner fieberkranken Schwiegermutter: sie einfach an der Hand genommen («preso per mano» 1/31) und aufgerichtet: da konnte sie sich wieder den Besuchern widmen

– abends erschienen noch zahlreiche andere Leidende und Heilungsbedürftige vor dem Hauseingang; viele konnten geheilt, gestärkt oder beruhigt davongehen ; wobei aber für die Umstände der heilsamen Begegnung alle missverständlichen Bezeichnungen, Worte oder Namen zu vermeiden waren («non lasciava parlare» 1/34), da solche die persönlich verpflichtende Einladung zur Umkehr wieder in den Hintergrund drängen

– am Morgen wurde es abermals vordringlich, ganz allein zu überdenken, ob die angegriffene Aufgabe wirklich göttlichem Willen entspricht; die Mitarbeiter jedoch konnten solch willentliche Distanznahme von einem erwartungsvollen und bewundernden Publikum in keiner Weise verstehen («tutti ti cercano»/jedermann sucht dich 1/37);
darum wiederum den Ort gewechselt, um die Botschaft in die Nachbardörfer zu bringen

– und da hat auch ein an Aussatz Erkrankter um Hilfe gebeten, beinahe erpresserisch, mit gutem Willen sei alles möglich: also gut, die Hand reichen («toccò con la mano» 1/41) als eine verfemte, lange nicht mehr erfahrene menschlichen Berührung und Annahme; dazu die Ermahnung, zur Vermeidung von Missverständnissen niemandem davon zu berichten («non dir niente a nessuno» 1/44) sondern nur seine Zustandsänderung amtlich beglaubigen zu lassen

– dennoch erzählte er dann in seiner Begeisterung überall das Erlebte, sodass es ein weiteres Mal nötig wurde abseits zu gehen, um zu überdenken, inwiefern Auftrag und Sendung wahrhaft und wirksam sind und wie das Unternehmen richtig weiterzuführen sei
– in einem Haus zur Erklärung der neuen Botschaft; die Leute drängten herzu, dass auch der Zugang und die Tür verstellt waren; zu viert trugen sie einen Gelähmten herbei, in der Hoffnung auf Heilung, und liessen die Trage vom Dach aus mitten in die Versammlung herunter; so sehr glaubten sie an die Botschaft vom befreienden Neuanfangen im Wort Gottes mit der darin angesagten Tilgung belastender und krankmachender Schuld

– solche Verheissung, den Kranken ansprechend ihm als Trost bestätigt ; worauf anwesende Gesetzeslehrer, an der Korrektheit des Zuspruchs zweifelnd, eine kritische Miene aufsetzten, besorgt um eigenes Ansehen, Tradition und Macht («posti d’onore, farsi vedere» 12/38)

– jedoch: es ist ja immer nur Gott selber, der allen vergibt in der Annahme und Befolgung der vermittelten Botschaft; und somit ist auch sein Reich und er selber darin anwesend, in der ganzen Begegnung sowie in der Person des Vermittlers; als göttliche Gegenwart, die allein den Glaubenden von aller Schuld und Angst und entsprechend auch von seinem körperlich belastenden Leiden zu befreien vermag

– erklärte dies dem Gelähmten, ihn ermutigend, er möge die Gedanken an Schuld vergessen, die Umkehr wagen und sich der neuen Lebenshaltung bewusst erheben; und er stand auf, nahm seine Trage und ging davon;

– da hat sich also sichtbar die Wahrheit der Botschaft erwiesen: Vergebung von Schuld und Behebung von Leid; und das Staunen der Menge musste Gott und sein Gegenwärtigsein als Urheber des wunderbaren Geschehens anerkennen («lodavano Dio»/ Gott priesen 2/12), als dieselbe Wirklichkeit in der Botschaft wie schon damals im eigenen ersten Hören, im entscheidenden Erlebnis am Jordan, im angenommenen Auftrag und letzlich auch im verkündenden Menschen, in seinem Reden, Handeln und ganzen Leben («il regno di Dio in mezzo a voi»/mitten unter euch Lk 17/21)

– beim Essen im Haus von Freunden, die gemäss der herrschenden Meinung nicht zur guten Gesellschaft gehörten («gente di cattiva reputazione» 2/16), zu den Vorwürfen der Frommen erklärt, wie die neue Botschaft ohne Bezug auf Volks- und Klassenzugehörigkeit Gültigkeit besitzt und besonders für alle, die unter Verachtung und Ausgrenzung und allerlei Schuldgefühlen leiden, eine Hoffnung und Hilfe darstellt;
hingegen ist die befreiende neue Sicht mit Änderung der eigenen Lebenseinstellung weit schwieriger zu verstehen und anzunehmen, wo man selbstzufrieden in der traditionellen Erwartung eines adligen Heldenführers und Wundertäters befangen ist

– die strenggläubigen Kreise und offenbar auch die Anhänger des Johannes befolgen öfters überlieferte Fastenregeln und rezitieren häufig Gebete («fanno digiuno» 2/18, «spesso ripetono» Lk 5/33); entsprechend wurde nun kritisiert, wer sich, am vorgeschriebenen Ruhetag, unterwegs vom Rand des Getreidefelds handgreiflich und tätlich etwas Nahrung abpflückte («cogliere spighe» 2/23);

– doch wichtiger als das Einhalten teils widersprüchlichen Vorschriften bleibt wie schon je die mitmenschliche Zuwendung, Anteilnahme und Hilfe («misericordia e non sacrifici» Mt 12/7, Hosea 6/6); und der Ruhetag ist als Geschenk an den Menschen zu verstehen («fatto per l’uomo» 2/27), über welches er verfügen darf; und deshalb muss auch jederzeit gestattet wie geboten sein, dem Nächsten Gutes zu tun, auch mit heilenden Handreichungen einem Leidenden gegenüber;
dem überkommenen Denken und seinen Lehrern geht das nicht leicht ein («sdegno»/Zorn, Verachtung 3/5)

– traurig («tristezza» 3/5), dass sie sich dem Neuen nicht öffnen können, weil das Einfache ihrem komplexen Lehrgebäude und den entsprechenden Erwartungen zu widersprechen scheint;
und so sehen sie die guten Wirkungen der neuen Botschaft als dämonische Zauberei an («demone» 3/22), die es auszumerzen gilt («come far morire»3/6); und dies obwohl sie ein andermal selber beglaubigende Zeichen und Wunder erwarten («segno miracoloso» 8/11)

– in solcher Haltung vermögen sie nicht zu verstehen, was gegen den Jammer der derzeitigen Weltlage einzig nottut: das Einschwenken auf den richtigen Weg, das Eintreten in die Gegenwart vom Gottes-Reich («regno di Dio in mezzo Lk 17/21); und eben nicht die Pflege und Weitergabe von traditionellen Lehren, was ein untaugliches Antreibmittel («lievito»/Sauerteig 8/15) darstellt, um Mut zur Umkehr und Wende zu machen

– ähnlich ihre Schwierigkeit, in der Unzahl kleinlicher Vorschriften das gottgewollt Wichtigste zu erkennen («tradizione insegnata mette da parte e rende inutile volontà di Dio» 7/9,13): nämlich die einfache alte Regel, Bedürfnisse und Anliegen des Andern genau gleich zu respektieren wie die eigenen (12/31), was weit mehr als Gebete, Opfer und Kult die wahre liebevolle Einstellung auf Gottes Ewigkeit bedeutet («tutta la legge» Mt 22/40);
und alles Predigen, Beten und Wunderwirken findet am Ende keinerlei Anerkennung («mai conosciuti» Mt 7/23), im Gegensatz zum ernsthaften («più seriamente» Mt 5/20) eigenen Tun im friedlichen Miteinander des Alltags

– wer wirklich vom Neuen ergriffen ist, muss das Alte überwinden und zurücklassen («per nuovo ci voglie nuovo»/für das Neue ist Neues nötig 2/22), es nicht mit dem neuen kombinieren, das Gebilde würde überlastig und könnte leicht ganz verdorben werden, wie auf altem Kleid ein Flicken von neuem Stoff, in einem alten Gefäss ein neuer gärender Wein; ebenso passt das altüberlieferte Fasten nicht zur festlichen Freude des neuen Anfangs (2/20)

– und wiederum hat ein Geisteskranker die Möglichkeit erspürt, in der Befolgung des göttliche Anrufs umzukehren, abzukehren vom Zwang des wahnhaften Zwiespalts in seinem Wesen; eine Wendung, welcher seine Umgebung indessen zweifelnd und ablehnend gegenüberstand (5/17)

– mehr und mehr Leute und von weit her kommend wollen hören, was da erzählt wird, und selber davon Nutzen ziehen – ein Gedränge, dem es immer wieder auszuweichen gilt; oft sind sie allzu befangen in den alten Lehren und Erwartungen und deshalb verunsichert, ob die neue Botschaft gültig sei;
nach ihrer Meinung müsste der Verkünder ein anerkannter Prophet und Wundertäter sein («segni e miracoli» 8/12), oder der traditionell erwartete Held und Befreier von aller Herrschaft, Schuld und Angst, oder er müsste allenfalls sonstwie seine Beziehung zum Himmlisch-Göttlichen erweisen («chi secondo la gente»/für was hält man 8/27)

– auch Verwandte und alte Bekannte haben Mühe, das Neue zu verstehen; es erscheint ihnen als zu gefährlich, und sie tun es als krankhaft ab («pazzo» 3/21); man versteht nicht, wie die Nächsten-Liebe über die Familienbande hinausgehend der ganzen Menschheit gelten muss, und wie die mitmenschliche, mitleidende Gemeinschaft aller wichtiger ist als ein selbstsüchtiges Erwähltsein in Familie, Verwandtschaft, Stamm und Volk («questi i miei fratelli, sorelle» 3/34), und wie es gilt, sich als echtes Kind Gottes, Sohn oder Tochter Gottes zu verstehen, in Gemeinschaft mit ihm, dem ewigen und einzigen Herrn und Meister («capo» Mt 23/9), Vater («padre» Mt 5/45) und Freund («amici» Jh 15/15)

– richtig Mitleid erregend der Anblick der grossen Menge Leidender, Ermatteter und Entmutigter; und niemand der sie richtig anleiten kann («compassione… stanchi scorraggiati, pecore senza pastore..» Mt 9/36); doch ist es mühsam, bei all den verschiedenen Haltungen im Volk und bei den Führern ihnen das Wahre näher zu bringen («sospirò»/seufzte 8/12);
um für alle und die ganze Welt die nötige, wirksame, befreiende Erneuerung in Lebenseinstellung und Daseinsauffassung zu erreichen, müsste das Volk aus der Trägheit seiner passiven Erwartungshaltung herausfinden, und die Führer und Lehrer auf ihren traditionsverhafteten Machtanspruch verzichten können

– gelegentlich scheinen Einzelne in ihrem besonderem Geisteszustand eine Art Wesensgleichheit zu erspüren, eine Übereinstimmung des göttlichen Ursprungs und Inhalts der Umkehr-Botschaft mit der Person des Verkünders, als eine Einheit von drei Erscheinungen im jetzt und stets gegenwärtigen Bereich Gottes («chi è» Mt 16/13);
doch öffentlich ausgesprochen würde dies, bei der verbreiteten Wundergläubigkeit und Wundersüchtigkeit, nur falsch verstanden («non dire» 3/12, «miracolo come prova» 8/11, «messia» 8/27); indessen bleibt es unerlässlich, sich persönlich in solchem Sinne der Sendung bewusst zu bleiben und von sich selber überzeugt zu sein

– einerseits behindert es die Ausbreitung des Neuen, wenn unverpflichtende Bewunderung eines Allerweltsheilbringers den nötigen Eigenentschluss zur Umkehr in den Hintergrund drängt; und dasselbe gilt vom trägen Hoffen auf einen imaginären Helfer oder ein übernatürliches Ereignis, und ebenso vom Verharren im blossem Erinnern, Zitieren und Weiterlehren alter Erinnerungen: all dies steht einem eigenständigen und jederzeit im hier und jetzt erneuerten Umkehren entgegen;
doch anderseits fragt sich, ob nicht gelegentlich ein gewisses Entgegenkommen angebracht wäre: sowohl bei den Traditionsgläubigen, wo alles Neue schon von früher her belegt sein soll, als auch bei den Mutlosen und Resignierten und Verängstigten, die jede eigene Anstrengung aufgegeben haben und alles von übernatürlichen Kräften oder Ereignissen erwarten;
es wäre also, um sie alle zu gewinnen und zur weitestmöglichen Ausbreitung und aktiven Befolgung der Botschaft, mitunter auch eine andersartige Weise der Auffassung und Deutung in gewissem Grade zuzulassen

– einige weitere Gefolgsleute ausgesucht, welchen das Wesentliche aufgegangen ist, damit sie als Helfer die Botschaft bezeugen und weltweit weitertragen können («per mandare» 3/14); und es ist wohl nötig, noch viel mehr Mitarbeiter für dieses Wirkungsfeld zu erhalten («che mandi operai» Mt 9/38)

– die neue Lebenseinstellung, mit einer ausgewogener Beachtung der eigenen Bedürfnisse und der ebensoberechtigten jedes Mitmenschen – das heisst also einfach Gott liebend in jedem Nächsten («tutta la legge»/das ganze Gesetz Mt 22/40) – muss an Beispielen ganz praktisch erklärt werden: wie die eigene neue Lebensweise ein Gegengewicht schafft zum üblichen schmerz- und angstreichen Sozialverhalten der Menschen, das so konfliktreich und dem Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft abträglich ist; einfache Veranschaulichungen der Grundregel, jeden andern genauso zu behandeln wie man es selber gerne hätte, und ohne kleinliches Berechnen oder ängstliches Vorausplanen («fare all› altro quel che voglio che mi faccia lui Mt 7/12, invece di vendicarsi» Mt 5/39, «non preoccuparsi «Mt 6/34)

– und zugleich wäre dies als gottgewolltes Vorbild handelnd und leidend selber vorzuleben, ja direkt persönlich zu verkörpern, zumal wo das Verlangen und Bedürfnis nach einer fassbaren, erlebbaren Führerfigur übermässig weiterbesteht

– ebenso muss der Wertgewinn der neuen Lebenseinstellung sinnbildhaft illustriert werden («tesoro, perla preziosa»/Schatz, Perle Mt 13/44); sich damit abfindend, dass das Wesentliche immer wieder verdrängt, vergessen oder gar nicht aufgenommen wird («andò a finire» 4/5), wo Gott nicht zuerst den Hörer zum Verständnis der anschaulichen Beispiele befähigt («Dio fa comprendere il segreto» 4/11);
wichtig bleibt, dass Ruf und Ziel sichtbar und nicht verdunkelt bleiben («chiaro» 4/22), wodurch Erfolg und Anerkennung sich genau nach dem erfolgten Einsatz richten («la misura» 4/22) ; indessen wird das Wachstum der Herrschaft Gottes auch im Verborgenen weiter geschehen und vollendet werden («cresce» 4/32)

– und dann im Sturm und in Seenot galt es einfach Mut zu machen, mit eigenem vorgelebtem Gottvertrauen, zur Beruhigung der zu Tode Verängstigten, eine ebensolche Beruhigung der Elemente vorwegnehmend;
was dann aber wiederum als übernatürlicher Zauber missverstanden wurde, und nicht als Zeichen des steten Aufgehobenseins in Gott, selbst im Tode, der jedem in Menschennatur geborenen Geschöpf bevorsteht («è necessario» 8/31), als Durchgang zu einer andern Daseinswirklichkeit im Bereich Gottes («fede invece di paura»/Glauben statt Furcht 4/40)

– um der Sendung und ihres Zieles willen, nämlich Verwirklichung der gottgewollten Weltordnung, bleibt es schliesslich unumgäglich, dass die aus den verschiedenen Missverständnissen sich ergebenden Rollen persönlich akzeptiert, übernommen und erfüllt werden, Mensch bleibend und zugleich der eigenen Gotteskindschaft bewusst

– und dies mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen und Erfahrungen, sei es gelegentlich nur Lob und unverbindlicheVerehrung, ohne aktive Umsetzung der Botschaft, oder andernorts Neid, Ablehnung und Verfolgung («è necessario» 8/31) bis in den Tod, als letztliche Beglaubigung dauernder Zugehörigkeit zum Ewigen in der Einheit mit Gott.

– …

forse di qualche interesse per qualcuno:
l’altro ieri è venuto a termine un piccolo saggio elaborato durante lettura e studio del testo bibblico in lingua straniera («in lingua corrente, LDC ABU 1994»), pieno di locuzioni scuotanti e tanto diverse da quelle (Luther, Zürcher) memorizzate in gioventù… in breve: avevo provato di leggere Marco 1 ecc. come «diario del Gesu da Nazareth»

Vor einem Jahr:
Bistum Chur ruft Vermittler aus dem Vatikan

Vor 2 Jahren erschienen:
Nationalforschungsprojekt – NFP 58

Vor 3 Jahren erschienen:
Kurs für muslimische Kaderleute statt für Jugendliche

Vor 4 Jahren erschienen:
Unser Freund, der Luftpirat …

Vor 5 erschienen:
Herzlichen Geburtstag Ernst Sieber

Vor 6 Jahren erschienen:
Menschenrechtsrat beschlossen

© libref – Zusammenstellung: Stephan MartiFinanzblog

Dutzende tote Christen bei Anschlagsserie in Nigeria


Liberal heisst freiheitlich. Libref. ist zudem alles andere als konservativ. Wir versuchen mit der Zeit zu gehen, denn sonst gehen wir mit der Zeit. Heute lassen wir ein Mitglied, zudem gewählter Revisor, berichten: Grossrat, Doktor der Kommunikation und Muslim Dr. Yahya Hassan Bajwa …

… liberaler Muslim und er nimmt es uns nicht übel, wenn in unseren Statuten steht, dass Mitglieder die nicht der reformierten Landeskirche angehören, kein Stimmrecht haben. Ja, auf diese Statuten dürfen wir echt stolz sein. Aber er hat das Mitspracherecht und das Vorschlagsrecht. Und im Grossen Rat des Kantons Aargau kommt Morgen folgender Text zur Sprache:

Persönliche Erklärung

In den letzten Tagen machten die Massaker z. B. in Nigeria Schlagzeilen. Christen wurden getötet und Kirchen durch Bomben zerstört.

In den Medien wird immer wieder der Ruf laut: „Weshalb erheben Muslime in der Schweiz nicht ihre Stimme gegen die Massaker an Christen in islamischen Ländern?“ Diese Frage wurde mehrmals auch mir gestellt. Diese Stimme möchte ich hiermit erheben

Die Anschläge in Nigeria oder anderswo werden durch Verbrecher verübt, die dann auch noch behaupten, dass sie sich islamisch verhalten, was absolut verabscheuungswürdig ist. Verabscheuungswürdig ist es, andere Menschen zu töten. Verabscheuungswürdig ist es aber auch, wenn auf diese schamlose Art eine Religion missbraucht wird!

Für die Ahmadi Muslime, die seit 1946 in der Schweiz beheimatet sind und die Gewalt ablehnen, hat das Oberhaupt der weltweiten Gemeinde, Hazrat Mirza Masroor Ahmad, anlässlich der Jahresversammlung in Indien letzten Dezember zur grössten Anstrengung sprich: zum Jihad gegen den Extremismus aufgerufen!

Dies sei für jeden Ahmadi verpflichtend, da wir uns für das Wohl aller Menschen einsetzen.
Auf eine Ursache des Extremismus und des Terrors hinweisend sagte er weiter, dass Gier und Neid einzelner Menschen als auch ganzer Regierungen die Ursache für Ausbeutung von Schätzen anderer Nationen sind. Die Behauptung, um des Friedens willen und um Menschen vor Ungerechtigkeiten zu schützen, Kriege führen zu müssen, sind Täuschungsmanöver um für die eigenen Interessen agieren zu können. So entstehen als Reaktion auf solche Ungerechtigkeit immer mehr terroristische Gruppen.

Zum Schluss weist er mit Nachdruck darauf hin, dass Frieden und Gerechtigkeit nur mit friedlichen Mitteln erreicht werden: Respekt füreinander, Gebete und Taten gegenseitiger Hilfe.

In diesem Sinne möchte ich mich im Namen der Mehrheit der Muslime in der Schweiz, die Gewalt ablehnen und speziell als Sprecher der Schweizer Ahmadiyya Muslim Gemeinde, ganz klar von solchen Anschlägen distanzieren und verurteile diese schrecklichen Taten aus tiefstem Herzen.

Dr. Yahya Hassan Bajwa
Aargauer Grossrat, Grüne

Nachtrag: obiger Text ist die offizielle Rede von heute – er wurde leicht geändert.

Yahya ist bei libref. kein Unbekannter – merci für den Text. Er gefällt, wird die meisten Menschen betreffen. Setzen wir uns für, sagen wir rund 95% der Menschen ein, die keine Extremisten sind.

Hier noch der deutschsprachige Link zum Aufruf gegen den Extremismus. Und falls sie Dr. Bajwa persönlich kennen lernen wollen, gehen sie am 3. Februar ins Tibet Songtsen House in Zürich.

Zum Gratisdownload von ««Kann das Recht Religion vor liberalem Horizont beschränken?» – von Benedict Vischer, gekrönt mit dem prix libref. 2011

Vor einem Jahr:
prix libref. 2011 – Gewinnsumme CHF 5000.-

Vor 2 Jahren erschienen:
«Woher kommt der Hass auf den Westen? – Gret Haller und Jean Ziegler im Gespräch mit Norbert Bischofberger»

Vor 3 Jahren erschienen:
Laudatio anlässlich Verleihung des prix libref. an Gret Haller

Vor 4 Jahren erschienen:
Pakistan: «The world’s most dangerous place»

Vor 5 erschienen:
Informationen über die Sikhs

Vor 6 Jahren erschienen:
WEF – einige Ansichten, einige Einsichten

© libref – Zusammenstellung: Stephan MartiFinanzblog

140-jährige Geschichte – Gratisdownload der Essays des prix libref. 2011


«Kann das Recht Religion vor liberalem Horizont beschränken?» lautete die Vorgabe des prix libref. 2011. Es entstand eine Publikation mit der Geschichte von libref. und drei Essays die sie kostenlos downloaden können

Preisträger ist Benedict Vischer. Wir gratulieren ihm herzlich. Seine Arbeit wollen wir ihnenn nicht vorenthalten. Flankierend werden noch zwei weitere Beiträge veröffentlicht, gewissermaßen „außer Konkurrenz“: Die Beiträge von Marcel Stüssi und Jean-Claude Cantieni.

Zum Download von «Kann das Recht Religion vor liberalem Horizont beschränken?»

Benedict Vischer
Benedict Vischer bei der Preisübergabe auf Schloss Reichenau

Geleitwort – die 140-jährige Geschichte von libref.

Der Schweizerische Verein für freies Christentum, im Medienzeitalter auf ‚libref.’ gepolt, existiert gestützt auf eine Konferenz in Olten von 1869 seit der damals beschlossenen Gründung von 1871, die in Biel erfolgte. Sie ist Dachorganisation zu den noch mehreren regionalen und kantonalen und lokalen Sektionen liberal gesinnter religiöser Kreise. Sein Gedankengut bezieht libref. vom jeweiligen Stand der liberalen Theologie her, die davon geprägt ist, dass in die Aufgabe und Würde jedes Einzelnen fällt, Gott zu suchen und zu finden und sein Leben auf Erden als Werkzeug Gottes danach zu gestalten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich das technologische Zeitalter einerseits und ein interkonfessioneller Kulturkampf riss anderseits Wunden auf, welche der Sonderbunds- als Sezessionskrieg der Innerschweiz geschlagen hatte. Die Verfassung von 1848 wurde damals manu militari durch die protestantischen Sieger dekretiert. – Worin anders, denn in einer Verfassungs-revison, konnten rechtmässige Zustände geschaffen werden, um zur Toleranz zu finden, die seit dem Dreissigjährigen Kriege des 17. Jahrhunderts so of geschmäht war? Das Freie Christentum Schweiz organisierte sich so als Lobby erfolgreich für Toleranzartikel in der Verfassung, so die Glaubensfreiheit, die zivile Ehe, und es setzte sich mit sozialen Fragen des Industriezeitalters auseinander, mahnte eine zentrale Aufsicht übers kantonale Erziehungswesen an. Rund 500 Mitglieder werden heute noch zu Hauptversammlungen eingeladen, ein letzt verbliebenes so genanntes „religiöses Milieu“ des Landes.

Der Verein versammelte ursprünglich gar Tausende Mitglieder zu „Reform-tagen“, daran auch Gäste verwandter Gruppen aus dem Ausland, Deutschland, England teilnahmen. Die Ära der Wochenende-Kolloquien folgte. Wissenschaftli-che und diakonische Engagements begleiteten die Vereinstätigkeit. Zentrales Publikationsorgan war bis vor Kurzem das „Schweizerische Reformierte Volksblatt“. In den Monatsschriften ist das freie Christentum seither in dem in Frankreich erscheinenden „Evangile & liberté“ präsent. Auf einem Blog informiert der Verein zur Zeit zu aktuellen religiösen Fragen, berichtet zu seinen Engagements und regt zum Diskurs darüber an.

Auch wenn sich die alten Fronten zwischen dem kirchlichen und dem freien Protestantismus aufgelöst haben und manche überkommenen Kontroversen heute nurmehr schwer verständlich sind, haben die aktuellen Entwicklungen im Bereich von Religion und Politik gezeigt, dass das Gedankengut des liberalen Protestantismus keineswegs überholt ist, sondern nach wie vor aktuell und wegweisend sein kann. Denn die Fragen der Versöhnung von Religion und Moderne, von Menschenwürde und Menschenrechten, des Respekts vor dem Einzelnen stellen sich im Bereich der Religionen heute mit grossem Nachdruck. Dabei sind diese Themen aber nicht mehr nur im Fokus der alten Mehrheitsreligion des Protestantismus zu behandeln, sondern in ökumenischer und vor allem auch in interreligiöser Offenheit. Um dieses Gedankengut wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken und auch weiterzuentwickeln, wurde 2008 der prix libref. Ins Leben gerufen, der wechselnd für besonderes Engagement und für wissenschaftlich-publizistische Leistungen auf dem Gebiet des liberalen Christentums vergeben wird. Erste Preisträgerin war 2008 an Frau Dr. Gret Haller, die für ihr Engagement zugunsten der Menschenrechte geehrt wurde, zumal damals als Hochkommissarin für Menschenrechte auf dem Balkan. 2011 wird ein prix libref. vergeben für ein Essay zum Thema: Kann das Recht die Religion vor liberalem Horizont beschränken. Preisträger ist Benedict Vischer, dessen Essay hier auch als erstes abgedruckt ist. Flankierend werden noch zwei weitere Beiträge veröffentlicht, gewissermaßen „außer Konkurrenz“: Die Beiträge von Marcel Stüssi und Jean-Claude Cantieni.

Der Verein hat sich liberal Denkenden Schweizern und Nichtschweizern von auch ausserhalb der Reformierten Kirche geöffnet, als deren liberaler Flügel sich der Verein nach seinem Selbstverständnisse und formell als Mitglied der Landeskirche versteht.

Reichenau, Eidgenössischer Dank-, Buss- & Bettag, 18. September 2011

Jean-Claude Cantieni für den Vorstand von libref.

Kapelle Schloss Reichenau

In der Kapelle auf Schloss Reichenau hörten wir die Predigt von Prof. Dr. Reiner Anselm:

Liebe Freunde,

der eidgenössische Buß- und Bettag, das Schloss Reichenau und die Generalversammlung von libref – wie passen diese drei Dinge zusammen? Auf den ersten Blick scheint es ja eher zufällig, dass wir uns nun gerade hier und an diesem Ort versammelt haben: Nach der Sommerpause, in einem Ort, der schön ist und noch dazu in der Nähe von Chur liegt, das eine aktive Gruppe von freien Protestanten kennt.

Wenn man aber einen Augenblick lang darüber nachdenkt, dann gibt es durchaus ein verbindendes Band zwischen diesen drei Elementen unseres heutigen Zusammenseins gibt: Das Innehalten und Nachdenken über den eigenen Kurs.

Innehalten und Nachdenken über den eigenen Kurs – das ist ja zunächst der Grundsinn, den wir als Protestanten mit Buße und Gebet verbinden. Beten kann ja nicht bedeuten, in einem magischen Sinne Gott zu beeinflussen. Wer wären wir denn als Menschen, wenn wir mit unserer kleinen Perspektive, mit unserem beschränkten wissen Gott zu etwas bewegen wollten? Beten bedeutet, sich selbst auszurichten auf die Botschaft des Evangeliums – und das ist nichts anderes, als einmal innezuhalten und sich über den eigenen Kurs wieder klar zu werden. Ganz ähnlich ist es bei der Buße. Auch hier können wir nicht mehr davon ausgehen, dass unsere Rituale in irgendeiner Weise Gott beeindrucken oder besänftigen können. Nein, für Christen gilt ganz grundsätzlich: Christus hat für uns alles vollbracht hat. Buße bedeutet aber wie schon das Beten, sich immer wieder neu darauf auszurichten, was das Evangelium von uns fordert. Dazu gehört auch das Eingeständnis, dass sich für uns immer wieder andere Dinge in den Vordergrund drängen, an denen wir meinen, uns orientieren zu können. Viel zu oft sind wir fest davon überzeugt, dass wir im Besitz der Wahrheit sind, dass wir wissen, wie’s geht. Viel zu oft wollen wir auch unsere Meinung anderen aufdrängen, gerade im Bereich der Politik, aber auch im Kleinen, in der Familie und im Alltag.

Innehalten und über den Kurs nachdenken, dafür steht auch unserer Versammlungsort. Schloss Reichenau, gelegen an der Stelle, an dem bei einer Alpenüberquerung der eigentliche Weg über die Alpen beginnt oder endet, verbindet sich mit zahlreichen Fragen nach dem rechten Kurs, verbindet sich auch mit dem Innehalten nach und vor einer besonderen Herausforderungen. Und als ein Ort, an dem die Erinnerungen aus vielen, vielen Jahrzehnten präsent sind, regt er auch uns in besonderer Weise an zum Nachdenken. Zum Nachdenken über unsere eigene Zeit, über unsere Herkunft und auch unser Ziel. Und er macht auf eine hilfreiche Art und Weise deutlich, wie sehr unsere eigenen Überzeugungen zeitgebunden, relativ sind und eben keine Absolutheit beanspruchen können. Überhaupt sind es ja die Erinnerungsorte, die nicht nur wach halten, was war und was uns prägt, sondern die auch die Begrenztheit jeder Zeit vor Augen führen. Erinnern, Gebet und Buße gehören darum eng zusammen.

Schließlich eine Generalversammlung. Ob es hier eine ganz einfache und ganz enge Verbindung gibt, die nämlich, dass der Vorstand angehalten ist, nach dem letzten Mandat von drei Jahren öffentlich Buße über seine Versäumnisse abzulegen, das überlasse ich Ihnen und vor allem der Versammlung heute Nachmittag. Aber das Nachdenken über den rechten Kurs, das Innehalten und sich neu orientieren, das gehört auf jeden Fall zu den wichtigen Funktionen einer solchen Versammlung.

Nachdenken über den Kurs, vergewissern der eigenen Wurzeln und der eigenen Ziele, das ist es also, das in meinen Augen den Tag, den Ort und unseren Anlass miteinander verbindet.

Nachdenken über den Kurs, suchen nach der Orientierung: Wer sich einmal im Nebel im Hochgebirge verlaufen hat, vielleicht noch auf einem Gletscher, der weiß, wie schwierig es ist, ohne äußere Anhaltspunkte, ohne Wegmarken und ohne Kompass die richtige Richtung wieder zu finden. Umso wichtiger ist es, dass wir uns immer wieder daran erinnern können, dass wir als Christinnen und Christen eine klare Orientierungsmarke haben: Die christliche Freiheit, die Freiheit, die untrennbar verbunden ist mit dem Leben und Wirken Jesu Christi.

Freiheit hat in unserer Zeit ja häufig nicht den besten Leumund. Freiheit steht häufig für ungezügeltes Handeln, für das Verfolgen eigener Interessen, zum Teil auch für Rücksichtslosigkeit – gerade im Bereich der Wirtschaft. Den Verfechtern der Freiheit unterstellt man nur zu leicht, sie würden sich nur nicht einschränken lassen wollen und sich aus der Verantwortung stehlen. Überall in Europa ist der Liberalismus daher in die Defensive geraten, zum Teil auch nicht zu unrecht, weil das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung, aber auch das Verhältnis von eigener Freiheit und der Freiheit der anderen, von Freiheit und Gemeinschaft nicht beachtet wurde. Freiheit und Gemeinschaft, Freiheit und Verantwortung sind nicht voneinander zu trennen.

Um sich daran zu erinnern, kann es helfen, sich immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass nach evangelischer Auffassung Freiheit nichts ist, das wir einfach so haben, das wir als unseren Besitz verstehen können. Christliche Freiheit ist immer geschenkte Freiheit. Und Freiheit als geschenkte Freiheit zu verstehen bedeutet, dass wir uns selbst nicht bloß als Einzelne oder als Individualisten wahrnehmen, sondern wissen, dass wir als Kinder der Freiheit mit anderen verbunden sind. Seine Freiheit zu gebrauchen ist daher immer verbunden mit der Erinnerung daran, dass es jemanden gibt, dem wir diese Freiheit verdanken. Und so wie wir die Freiheit als Geschenk bekommen haben, so sollen wir uns auch darum bemühen, sie anderen zu schenken. Dies allein schützt davor, sich einfach in den Mittelpunkt zu rücken und die Mitmenschen um uns herum zu vergessen.

Freiheit kann aber auch bedrückend sein. Wer frei ist, muss entscheiden, muss Verantwortung übernehmen. Wie süß klingen da doch immer wieder die Schalmeientöne, man müsse sich doch nur der Lehre, der Partei, der Gruppe anvertrauen und ihre Weisungen befolgen, dann könne man alle Unsicherheit über den eigenen Kurs vergessen. Freiheit, das spüren wir selbst und nehmen es uns in der Welt um uns herum auch immer stärker wahr, kann auch verunsichern, kann überfordern. Die Sehnsucht nach Gewissheit und nach Orientierung, die Sehnsucht aber auch nach Entlastung, dass ich nicht selbst alles entscheiden muss, ist daher oft der größte Feind der Freiheit. Darum gehören in meinen Augen zwei Dinge immer zusammen: Der Zuspruch der Freiheit und die Gewissheit, dass es etwas gibt, dass uns an der Verantwortung, die die Freiheit mit sich bringt, nicht zerbrechen lässt. Genau das war es, was die Reformatoren mit der Rechtfertigung allein aus Glauben zum Ausdruck bringen wollten. Genau das ist es aber auch, was Paulus meint, wenn er im 2. Korintherbrief schreibt: Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

Amen.

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Prof. Dr. Reiner Anselm
Lehrstuhl für Ethik – Theologische Fakultät
Georg-August-Universität Göttingen
Platz der Göttinger Sieben 2
D- 37073 Göttingen
Tel. +49 551 39 4968
mobil +49 179 5320 599
www.ethik.uni-goettingen.de

Vor einem Jahr:
Zum Gedenken an Anne-Marie Bianchi-Segon

Vor 2 Jahren erschienen:
Scientology – die Glaubensfreiheit hat nun Grenzen

Vor 3 Jahren erschienen:
Das Buddhistische Zentrum Wat Srinagarindravararam

Vor 4 Jahren erschienen:
«Wer nicht liberal ist, hebe die Hand»

Vor 5 erschienen:
Sikhs und eine Frage zur Religionsfreiheit

Vor 6 Jahren erschienen:
Orthodoxie und Gewalt im Islam

© libref – Zusammenstellung und Foto: Stephan MartiFinanzblog

Bethlehem – Teil I – die kleine Revolution


3027 Bern-Bethlehem dürfte dem Namen nach eines der bekanntesten Quartiere aller Schweizer Städte sein. Und zu Weihnachten ist das Sonderpostamt weltweit beliebt. Wenn möglich pilgere ich dieses Jahr zum 46 mal dorthin, denke an meine Jugendzeit zurück und versende meine Festtagsglückwünsche aus dem Tscharnergut mit einem liberalen Link zum Christentum.

Libref., das liberale Christentum feiert am Bettag anlässlich der Hauptversammlung und beim Verleih des prix libref. das 140. Vereinsjahr – gegründet 1871 in Biel – auf Schloss Reichenau.

Pinot Tscharnergut

Schlossherr ist der Winzer Gian Baptista von Tscharner, der unter anderem auch schon einen Pinot Noir mit dem Namen «Tscharnergut» ausbaut hat. Im «Tscharni», dem heutigen Zentrum von Bethlehem, bin ich aufgewachsen. Unser Präsident war vor kurzem im ursprünglichen Bethlehem. Grund genug diese beiden Orte im Schlossgarten zu präsentieren und Bündner Spitzenwein zu geniessen. Vielleicht gibt es sogar die zwei oben abgebildeten Spezialitäten zu verkosten. Wie wäre es wenn wir die nächste Versammlung in Genf machen – Apéro auf der Domäne Balisiers, zum Beispiel den namenlosen «Sine Nomine». Wer heute keine Trauben lesen oder geniessen kann, liest mit Genuss das Interview mit diesen beiden Spitzenwinzern über die damals noch fast unbekannte Weinausbaumethode mit dem Konzentrator.

3027 Bern-Bethlehem

3027 ist die höchste Postleitzahl einer Stadtberner-Quartierpost. Zumindest bei der Durchreise hat man den Eindruck, dass es auch das neueste Quartier sei. Die Poststelle befindet sich über 50 Jahre im heutigen Zentrum Bethlehems, im Einkaufszentrum des Tscharnerguts. 1959 hat man die Schwerkraft überwunden. Die Russen im kalten Krieg mit der ersten Raumsonde, die das Schwerefeld der Erde verliess und die Ideen von Hans Reinhard die den Grosssiedlungsbau revolutionierten.

Einkaufszentrum Tscharnergut

Weihnachtsstimmung vom Fellergut (Bümpliz) aufgenommen.

Einwohnermässig ist Bethlehem das 2. grösste Quartier der Stadt Bern – 12 500 Einwohner. Zahlen sind leicht gerundet. Bümpliz hat einen Viertel mehr.

Bethlehem

Einwohner je Quadratkilometer:

2600 im Kirchenfeld – nobel und für die Wohnqualität gelobt

5300 im Monbijou und in Bümpliz – Wohnqualität besser, als vermutet

9600 in der Länggasse – das feine Quartier, alteingesessen, Uni

10100 im Mattenhof – wo liegt der – zumindest nicht an der Aare

13850 im Breitenrain – grössere Grünflächen sind im Kasernenareal zu finden

2997 in Bethlehem – extrem viel öffentlicher Erholungsraum

Im Tscharnergut alleine sind es schätzungsweise 20 – 25 000. Nur hat es hier extrem viel Freifläche und es halten sich nie alle zusammen darin auf. Nicht nur Kinder und Jugendliche werden dafür benieden.

Tscharnergut

Das Westend in Wiesbaden hat 25′ und ist nicht mit dem West-End im Brünnengut von Bethlehem zu verwechseln. Schleichreklame sei bei diesem Link erlaubt. Unser einziges islamisches Mitglied (ohne Stimmrecht, das ist den Reformierten vorenthalten) und pakistanischer Bürgermeister kandidiert im Kanton Aargau für den Nationalrat – Dr. Yahya Hassan Bajwa.

Übrigens, der Distrikt Freguesia de Santo Antonio innerhalb von Macao hat eine Bevölkerungsdichte von praktisch 100’000 Personen. Heute gilt das Tscharnergut als weltweiter Meilenstein im Grosswohnungsbau. Am Anfang hatten es die Medien, vor allem das Schweizer Fernsehen mit Werner Vetterli und seiner Extremmanipulation schlecht gemacht. Deshalb vermutlich der Ausdruck «Vetterliwirtschaft» (s. 3. Link oben).

Heute hat Bethlehem den 2. grössten Ausländeranteil in der Stadt Bern. Nur im gelben und roten Quartier (Hirschenplatz bis Zytglogge) ist er grösser. Am Anfang war er im Tscharnergut sehr klein – Wohnungen waren knapp, man konnte auslesen. Und manche Familie mussten innert kürzester Zeit umziehen, weil Berner Baugeschäfte ältere Häuser aufkauften, Bauarbeiter einquartierten und später Neubauten mit mehr Wohnungen bauten. Sogenannte Renditeobjekte. In unserer ehemaligen 3-Zimmerwohnung in der Länggasse wurden über 20 (!) Italiener einquartiert. Das Wort «Menschenrechte» hätte es schon damals gegeben.

Auf obigem Bild sehen sie den Bahnhof Bümpliz Nord. Früher sogar offizielle Haltstelle des TGV nach und von Paris. Wenn das Bahnhofsgebäude auf der nördlichen Seite der Schienen liegen würde, hiesse er Bethlehem. Eine knallharte Grenzlinie wie sie in dieser Länge in der Schweiz vielleicht einmalig ist. Der Container-Zug der weltweit grössten Container-Schiff-Reederei aus der Gruppe Møller – Mærsk wird aber den Hafen auf dem Bethlehemer Quartiergebiet nie erreichen, obschon Bethlehem einen solchen am Wohlensee aufweist. Das einzige Quartier in der Stadt Bern mit zwei Seen. Der Weyermannshaus See, bis in die 50iger Jahre ein Naturteich, ist das grösste Beton-Schwimmbecken der Schweiz – mit Gratiseintritt.

In der Nähe im Nachbarquartier Holligen wird auf dem Europaplatz das Haus der Religionen errichtet. Mitinitiant ist der «Verein runder Tisch der Religionen» der sich seit 1993 aus den fünf grossen Weltreligionen und den Christ-Katholiken zusammensetzt und sich den gemeinsamen Alltagsproblemen in Bethlehem annimmt.

Tram

Bethlehem war eigentlich immer schon liberal den Religionen gegenüber. Und modern, was die Kirchenbauten anbelangt. Hinter dem jahrelang Schlagzeilen machenden Tram ist die Sankt Mauritius Kirche zu sehen. Eine katholische Kirche mit nur einer einzigen kleinen Glocke.

Kirche Bethlehem

Aber seien sie versichert. Selbst die kleinste Glocke der reformierten Kirche Bethlehem tönt reiner. Diese Kirche und mein Elternhaus haben mich mit dem liberalen Gedankengut geprägt. Mein Pfarrer war so liberal, dass er aus der Berner Kirche ausgeschlossen wurde. Eigentlich müssten wir Liberalen uns einsetzen, dass die Geschichte von Pfarrer Koch aufgearbeitet würde. Einer der besten Pfarrer, die ich je erlebt habe. Und Diskussionen gab es, denn wir waren nicht immer gleicher Meinung. Einen Sitzstreik vor dem Migros und dem ABM, dem zweiten als Providurium erstellten Einkaufszentrum im Tscharnergut, hat er abgesagt. Auf den Einkaufsrausch vor Weihnachten wollten wir aufmerksam machen. Wenn schon, hätten wir vor allen Läden einen Sitzstreik durchführen müssen. Aber sicherlich nicht nur vor Duttis Laden und schon gar nicht vor dem andern, der damals dem Kloster Einsiedeln gehörte. Und das Schönste kam dann noch. Irgendwann mal später habe ich erfahren, dass mein Vater hier im Kirchgemeinderat war. Alls Mitglied einer Kollegialbehörde hat er nie etwas über diese Geschichte erzählt.

«Herr Gott noch einmal», warum sind wir Liberalen so verklemmt und sagen unseren Kindern nicht, dass wir liberal sind und vor allem, was liberal ist. Letzten Montag war die Hauptversammlung der liberalen Sektion Langenthal und da bemerkte eine Dame: «Wieso macht ihr nicht Werbung, um unsere Kinder als Mitglieder zu werben. Vor über zehn Jahren, als ich deren Präsident war, haben wir das gemacht. Resultat – kein einziges zusätzliches Mitglied. An der Versammlung wurde auf ein Grosskind aufmerksam gemacht, das eine Berndeutsche CD herausgegeben hat. Wenn er Mitglied wird (CHF 8.– je Jahr), dann bin ich bereit, ein Konzert mit ihm für libref. durchzuführen. Vermutlich wird er diese Zeilen nie lesen, denn die liebe Grossmutter wird rein statistisch gesehen nicht den Mut aufzubringen, über die liberale reformierte Kirche zu sprechen und ihn anzuwerben. Meine Kinder wissen, dass ich (und sie) liberal sind. Mitglied werden scheint für die meisten Liberalen kein Thema zu sein. Schliesslich ist man nicht der Kirche sondern dem reformierten Glauben verpflichtet. Echte, nicht bekennende Liberale eben mit einer abendländischen Kultur.

Zuviel Nebensächliches, das ja eigentlich das Leben prägt? Dann lesen sie eben quer. Ich erlaube mir hier meine Gedanken zu meinem Buch aufzuschreiben, das langsam aber sicher sich von den Strukturen her abzeichnet. Jetzt beim Schreiben höre ich im Radio Chuck Berry – my Dingeling. Beautifull, zumindest so Chuck. Die Originalversion dauert länger, als ich Zeit habe, in Reichenau über das Tscharni und Bethlehem zu sprechen.

1970 hat Pfarrer Koch in der Kirche Bethlehem ein Rock-in-Church Konzert durchgeführt. Ich konnte das erste für Langenthal rund 30 Jahre später ganz revolutionär (!?) zum etwa 45-jährigen Bestehen des Rocks durchführen. Zeit, um in die Geschichte einzugehen.

Der Beginn des Tscharnerguts ist auf das 17. Jahrhundert einzustufen. Ein von Tscharner hat von von Erlach das Fellergut übernommen …

Fellerstock

… und eine Allee führte ins heutige Tscharnergut. Die trennende Eisenbahnline trennte noch nicht. Geplant war vor Jahrzehnten eigentlich der grösste Flugplatz der Schweiz. Wechseln wir zum Velo. Mein Schulweg führte fünf Jahre an den Überbleibseln dieser quartierverbinden Strecke vorbei. Links war Scapa, , das alte und das neue Schloss Bümpliz und unter uns – fünf Stöcke genau – Ändu …

Patent Ochsner - Stadt Bern

… er wohnte im 9. Stock Büne Huber mit seiner W. Nuss vo Bümpliz. Genau genommen in dieser Zeit eher bei seinen Eltern mit Muschle, seiner Schwester. Irgendwie kommt mir jetzt mein Bruderherz in den Sinn. Ganz patent, an seinen Texten zu beurteilen ein echt Liberaler. Aber vermutlich weiss er das nicht. 95% aller Liberaler wissen nicht, dass sie liberal sind. Ja, da war noch der nicht ganz liberale Pfarrer vom vergangenen Samstag, der manchmal nur drei Kirchgänger hat. Der sagte was extrem Tiefgreifendes. «Liberal oder nur Distanziert?»

Gehen wir wieder auf Distanz oder werden wir nah zum Geschehen. Je nach Blickrichtung. Das Schloss Reichenau mit dem Nachfahren derjenigen die dem Tscharnergut den Namen geben haben, leben denkmalfreier. Meine beiden ehemaligen Zuhause in Bern-West …

Waldmannstrasse 61 - Tscharnergut

… sind heute denkmalpflegerisch und geschichtlich interessanter. 9/11 würde es im Schweizer Bethlehem nie geben. Ranglistenmässig sind die fünf 20ig-stöckigen Wolkenkratzer mit rund 50 Metern Höhe auch nur Winzlinge. Wenn wir die Zählart der Chinesen brauchen, sind es deren 13. Weltweit gibt es 6oo Wolkenkratzer über 200 Meter, 50 mit mehr als 300 Metern und der islamische Buri Khalifa in Dubai ist mit 828 Metern am höchsten … aber die höchste Kirche steht in Chicago. Zehn Meter höher als die «echte Kirche», das Ulmer Münster und noch mal 30 dazu für das Minaret der ‏مسجد الحسن الثاني‎ in Marokko

Ja, dann gibt es noch ein weiteres Bethlehem (ganz unten) in der Schweiz. Genau genommen in Schwyz. Ruedi unser Revisor wurde Ende Juli im Rollstuhl daran vorbei gestossen. Er konnte meine Rechnungen nicht mehr revidieren. Seine Frau hat die Karte geschrieben. Ich kann ihm nachfühlen, weiss wie es ist, gerollstuhlt zu werden, nicht schreiben zu können, auf andere angewiesen zu sein. Ruedi, ich kann heute wieder relativ gut selbst gehen und schreiben. Langsamer zwar und mit viel mehr Tippfehlern. Ds Hirni isch viu schnäuer aus d’Finger u de due i mi haut mängisch verbuchstable – sorry. Gnies das wo us Richenau chunt.

Und die andern müssen sich gedulden, bis ich über den zweiten Part von Bethlehem etwas ins Blog stellen werde. Ja unser Präsident muss mir halt die digitalen Unterlagen nachreichen und ich werde den Bettag ausdehnen und noch drei Tage rund ums Bündnerland die Welt erkunden. Und merken sie sich: Beten allein hilft nicht, an sich glauben und kämpfen ist wichtig. Und wenn ich Glück habe, treffe ich als Liberaler auf meinen Reisen Pfarrer Klaas Hendrikse der sagt «Es gibt keinen Gott» oder auf die vikarische Bloggerin Carla Maurer in ihrem Jahr als Vikarin.

Glockenturm

Beim Glockenturm im Tscharnergut findet keine Bettgspredigt statt. Der hat mit der Kirche nicht viel gemeinsam, aber mit unserem Glauben. Übrigens, ein ausführliches und lesenswertes Dokument. Nehmen sie es bitte ihr und allenfalls auch mir nicht übel, wenn Zahlen nicht korrekt sind. Diese sind schon für Bethlehem fast nicht zu bekommen, geschweige denn für eine der vier Hochhaussiedlungen in diesem Quartier. Und falls sie die drei heiligen Könige suchen – Kaspar, Balthasar und Melchior – die findet man nicht im Tscharnergut, wohl aber in Bethlehem.

Liberale, verbindet euch, zusammen wären wir stark. Wir müssten nur Farbe bekennen.

Hahn

Einen speziellen Gruss noch von unserem etwas griesgrämig dreinschauenden «Wappentier» aus dem Tscharnergut-Zoo

Vor einem Jahr:
Zum Gedenken an Anne-Marie Bianchi-Segond

Vor 2 Jahren erschienen:
Die notwendige schöpferische Pause

Vor 3 Jahren erschienen:
SEK – Dank für Gedankenaustausch

Vor 4 Jahren erschienen:
Kreationismus – Evolution oder aus der Rippe von Adam

Vor 5 erschienen:
Turmgiesserei in Langenthal

Vor 6 Jahren erschienen:
Der schleichende Fundamentalismus in den Schweizer Landeskirchen

© libref – Text und Foto: Stephan MartiFinanzblog

Einladung zum Liberalismus


Am 18. September ab 10:00 Uhr treffen wir uns auf Schloss Reichenau

Schloss Reichenau Schweiz

weitere Details finden sie im Programm.

StatutenSpesenreglement

Liberal wie wir nun mal sind, kann sich jeder die Freiheit nehmen, teilzunehmen oder den Eidg. Buss- und Bettag anders zu verbringen. Alle seid ihr herzlich willkommen geheissen. Ob Mitglied, Gast, Interessent, Presse, nicht nur die Preisverteilung des prix libref. 2011 ist öffentlich. Kommt, hört zu, diskutiert mit und setzt euch für dauerhafte und Generationen übergreiffend Freiheit ein. Andreas sei Dank, zu deinem Programm gibt es eigentlich nichts mehr zu ergänzen. «Vorgekostet» hatten wir schon früher.

Und trotzdem möchte ich noch einige Zeilen anfügen. Wer nicht kommt hat vielleicht Zeit sich die Serie «Liberalismus» der Wirtschaftswoche zu Gemüte zu führen. Ob Kirche, Staat oder Wirtschaft, die Zeiten sind hart aber stehen im Grunde genommen gut für den Liberalismus. Die heutige Zeit hat den Liberalismus bitter nötig. Der allumgreifenden Maximierung ist Einhalt zu gebieten, wir müssen besser langfristig optimieren. Und eines muss der Liberalismus – sich aus seiner Passivität befreien um «die Denkfaulen, Antriebsarmen und Freiheitsmüden auf Kurs zu bringen».

«Serie Liberalismus

Woher er kommt: Die Idee der Freiheit – Teil I

Wo gibt es ihn? Von Schafen und Kälbern (Printausgabe) / Fandung nach liberalen Märkten – Teil II

Welche Feinde hat er? Die Feinde der Freiheit – Teil III

Wofür brauchen wir ihn? Der Sinn der Freiheit (Printausgbe) / Was Freiheit heute braucht – Teil IV«

gefunden in der Wirtschaftswoche (www.wiwo.de) Nr. 28 – 31 / 2011

Vor einem Jahr:
Fritz Buri – eine unbekannte bekannte Persönlichkeit

Vor 2 Jahren erschienen:
Die notwendige schöpferische Pause auch bei libref.

Vor 3 Jahren erschienen:
SEK – Dank für Gedankenaustausch – über den Gedankenaustausch mit Gottfried Locher wird in Reichenau informiert

Vor 4 Jahren erschienen:
Bivio-Vortrag Dr. Dr. h.c. Gret Haller

Vor 5 erschienen:
Dipl. Bibelerzählerin

Vor 6 Jahren erschienen:
Kirche und bundesgerichtliche Rechtssprechung

© libref – Text und Foto: Stephan MartiFinanzblog

Das legislative Heilmittel gegen den Terrorismus gibt es nicht


Der norwegische Attentäter wird sich zwar kaum religiös rechtfertigen wollen,doch wird über einen religiösen Hintergrund gemunkelt. Eine verletzliche Glaubensfreiheit erscheint so doch als erst recht verteidigungswürdig (wie die Norweger das tun), indem Sicherheitskreise über Religion auf die Glaubensfreiheit verfügen wollen? Freiheiten sind mehr denn ein Definitionsproblem.

‚Wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten’, lautet der Hauptsatz, den Sicherheitsexperten nun nach den Attentaten in Oslo und auf der Ferieninsel davor rezitieren, um Freiheit und Sicherheit in ihrem Verhältnisse zu Gunsten von mehr Sicherheit neu zu definieren. Doch; Sicherheit rührt aus Misstrauen, das neue Konflikte schürt, urteilte der Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, um sinngemäss zu folgern, dass Freiheit ein Wagnis in einer Welt ist, die nicht Reich Gottes, sondern bestenfalls eine Welt ist, mit der Gott sich versöhnt hat. Dieses geistige Vermächtnis des im eignen Opfer Erprobten – crede perito – ist zu pflegen, wenn Sicherheitsdenken nun weiters grassiert. Seit dem 11. September 2001 ist die Politik der westlichen Welt dabei, Prävention zu propagieren und dafür das (Freiheit-) Recht zu instrumentalisieren. Angst, die – sprichwörtlich – ein guter Diener doch ein schlimmer Herrscher ist, wird geschürt. Übersehn wird, dass das Recht, zumal Sicherheits-, d.h. Polizeirecht seinerseits Gewaltsamkeit in einer Grauzone von Sicherheit und Freiheit in sich birgt. Staaten entstehn bis heute meist gewaltsam, neue Staaten setzen bisheriges Recht ausser Kraft, inthronisieren neues. Selbst die Schweiz ging aus einem ‚Sonderbundskrieg’ und einem Siegerdiktat danach hervor. Wir brauchen auf keine ‚alte Geschichten’ um Wilhelm Tell zurück zu greifen.

Wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten? Ob so nicht die Glaubens- & Gewissensfreiheit selbst zu strapazieren ist Glaube verbirgt zwar nichts, doch er hütet Geheimnisse, die Sicherheitsdiensten als suspekt erscheinen mögen. Glaube ist Kunst der Initiation, praktisches Unterweisen im Wahren und Weitergeben von Glaubensgeheimnissen, was heute schon dadurch gefährdet ist, dass ein Aussagen von Wahrheiten ohnehin grassiert. Eine Praxis des Geständnisses greift um sich. Selbst Protestanten soll im Inernet eine Platform für eine (öffentliche) Beichte geboten werden… Die Sicherheitsdienste werden um so mehr danach verlangen, (Glaubens-)Wahrheiten zu erforschen, um religiösen Irrläufern auf die Spur zu kommen. Doch sie werden sich keineswegs an ihre Spur heften, sondern ihnen zuvorkommen wollen, Wahrheiten selbst schaffen wollen, d.h. Glaubwürdigkeit definieren wollen, und spätestens hier hat Pro-Test einzusetzen. Was je glaubwürdig ist, ist ‚ jeder Person mit historischer Begründung’ selber anvertraut. Die abendländische Geschichte zielt seit Paulus auf diesen personalen Gewissensentscheid. Er ist verfassungsmässig geschützt, anders Religionsfreiheit, d.h. die religiöse Praxis der Kirchen und der Person. Andreas B. wird kirchlich fundamentalistischen Kreisen zugeordnet. Sein Diferenzierungsvermögen, zwischen Glauben und Religion zu trennen, fehlte. Während Glaubensfreiheit ein geschützter Rechtstitel ist, ist Religionsfreiheit angemasst, worauf eine Kolumne in der ‚Weltwoche’ kürzlich verwies. Diese Differenz weiters herauszuarbeiten ,ist Aufgabe nach Nine eleven dem Massenmord zumal auch an Jugendlichen in Norwegen geworden. Glaubensfreiheit kann dadurch gewinnen, Differenzieren setzt frei.

Cui bono, fragten die alten Römer. Wem nützt was? Werden nicht Terroristen zum Gesetzgeber (Heribert Bartl), d.h. öffnen sich so nicht neue rechtsfreie Räume, in die neue Gewalt statt Freiheit einzieht, wenn aktionistisch ausgeblendet wird, dass wir uns für die Freiheit entschieden haben. Nine eleven und nun die neuliche Bluttat in Norwegen haben die Würde unserer Zivilisation beleidigt. Sie ist durch keine ‚proaktive’ Polizei zu ‚reparieren’. Die Diskussion darüber ist in den Dialog zwischen Kirche und Staat zu lenken, deren vertrauensvolles Verhältnis neu zu definieren ist. Beide sind in ihren Versprechen ohne Zusammenarbeit je für sich überfordert.

Allenfalls, dass er, sein Telefon oder sein Konto ab und zu heimlich und «verdachtsunabhängig» kontrolliert wird, wenn der Mensch nicht so ausschaut oder sich nicht so verhält, wie ein Polizist, ein Grenz- oder Verfassungsschützer sich einen braven Bürger vorstellen. Aber solche Kontrollen müsse man, so meinen die Politiker, im Interesse von mehr innerer ­Sicherheit in Kauf nehmen.

Hinter der vermeintlichen Harmlosigkeit dieser Sätze steckt eine fundamentale Neuorientierung der Sicherheitspolitik: Jede einzelne der vielen neuen Massnahmen mag, für sich genommen, noch für tolerabel gehalten werden. Von einer einzelnen Videokamera geht keine Gefahr aus, von einer einzelnen Speichelprobe, die von einem völlig unverdächtigen Menschen genommen wird, auch nicht. Wenn der Mensch aber überall mit Videokameras beobachtet wird, wenn mit Erfassungssystemen festgehalten wird, wo und wann er welche Strassen benutzt, wenn die Daten seiner Flüge registriert, seine dortigen Essgewohnheiten festgehalten, seine Computer elektronisch durchsucht, seine Bankkonten staatlich visitiert, seine Persönlichkeitsdaten, seine Krankheiten und Gebrechen zentral abrufbar werden, dann ergibt sich die gefährliche Totalität aus der Summe.

Die Erfassungsnetze, die alle Bürger umfassen, werden immer dichter, die beobachtungsfreien Zonen immer kleiner. Der Mensch wird zum Beobachtungsobjekt. Beobachtungsobjekte sind oder werden unfrei. Die Menschen, die in der DDR lebten, wissen, wie das funktioniert; der Regisseur Henckel von Donnersmarck hat es in seinem Film «Das Leben der Anderen» geschildert. Aus dem freiheitlichen Rechtsstaat wird so ein fürsorglicher Präventionsstaat, der seine Bürger nicht mehr als unverdächtig, sondern als potentiell verdächtig, als «noch» nicht verdächtig betrachtet.

Palinurus, der sagenhafte Steuermann des Äneas, war am Ruder eingeschlafen und musste diese Fahrlässigkeit mit dem Leben bezahlen: Im Schlaf wurde er von Bord gespült und dann von den Eingeborenen an Land erschlagen. Seit dem 11. September 2001 reden und handeln die Politiker der inneren Sicherheit so, als sei freiheitliche Demokratie eine palinurische, eine fahrlässig unachtsame Demokratie. Sie behaupten, die westliche Gesellschaft habe es mit der Freiheit und Offenheit, der Liberalität, der Toleranz und dem Rechtsstaat übertrieben und erhalte nun die Quittung in Form von islamistischem Terrorismus. Die zivilisatorischen Grundwerte sind unter Generalverdacht geraten.

Im fürsorglichen Präventionsstaat sind die Grenzen zwischen Unschuldigen und Schuldigen, zwischen Verdächtigen und Unverdächtigen aufgehoben. Bisher hat das Recht hier sehr genau unterschieden. Nun aber gilt jeder Einzelne zunächst einmal als Risikofaktor, jeder Einzelne muss es sich daher gefallen lassen, dass er, ohne einen konkreten Anlass dafür geliefert zu haben, «zur Sicherheit» überwacht wird. Die EU-Richtlinie zur verdachtsunabhängigen Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten ist in allen Ländern der Europäischen Union grosszügig in nationales Recht umgesetzt worden. Das bedeutet: Alle Telekommunikationsdaten (wer hat mit wem wie lange mobil oder per Festnetz telefoniert) und alle Internetdaten (wer hat mit wem wann E-Mails ausgetauscht, und wer hat wann welche Internetseiten aufgerufen) werden «auf Vorrat» gespeichert – es könnte ja sein, dass man diese Daten noch zu Ermittlungszwecken braucht.

Wenn sich dann ergibt, dass der so Beobachtete, Registrierte, Belauschte und Geprüfte nicht gefährlich ist, wird er wieder zum Bürger. Jeder Einzelne gilt als potentiell verdächtig – so lange, bis sich durch die Kontroll- und Über­wachungsmassnahmen seine Entlastung ergibt. Bisher war das umgekehrt: Wer keinen Anlass für staatliches Eingreifen gegeben hatte, wurde in Ruhe gelassen. Jeder konnte also durch sein eigenes Verhalten den Staat auf Distanz halten. Man nannte das Rechtsstaat.

Es geht der Politik, welche die neuen Sicherheitsgesetze schafft, nicht mehr um die Verfolgung begangener Straf­taten, auch nicht mehr primär um die Verhinderung einzelner krimineller Handlungen. Es geht vielmehr darum, ein Frühwarnsystem zu errichten. Zwischen Polizei und Geheimdienst wird dabei nicht mehr unterschieden. Es entsteht ein einheitliches vernetztes Sicherheitssystem, in dem geheimdienstliche (also rechtsstaatlich kaum kontrollierte) Ermittlungsmethoden allgemeiner Standard werden. Es werden, und das ist der Preis dieses Frühwarn­systems, Mittel und Methoden angewendet (heimliches Abhören und heimliche Kontrollen), die im Strafrecht nur gegen Verdächtige möglich waren.

So werden Grundrechte banalisiert. Der neue Präven­tionsstaat zehrt von den Garantien des Rechtsstaats; er entsteht, indem er sie verbraucht. Das ist – weltweit – das Grundproblem der derzeitigen Politik der inneren Sicherheit: Der Präventionsstaat muss, das liegt in seiner Logik, dem Bürger immer mehr Freiheit nehmen, um ihm dafür Sicherheit zu geben; das trägt den Hang zur Mass­losigkeit in sich, weil es nie genug Sicherheit gibt.

Wenn der Staat wirklich «alles» tun muss, um Sicherheit vor Terrorismus zu gewährleisten, dann ist die Politik noch lange nicht fertig: Dann müssen solche «Gefahrpersonen» vorbeugend inhaftiert werden, die zwar noch keine Straftaten begangen haben, von denen die Behörden aber glauben, dass sie Straftaten begehen könnten. Die Logik des Präventionsstaats führt also zur Vorbeugehaft, auch langjährig, zur Schutzhaft, zur Langzeitquarantäne – wie immer man solch präventives Einsperren nennen möchte. Und ist es nicht geradezu eine Pflicht des Präventionsstaates, in den «Ticking-bomb-Fällen» zur Folter zu greifen? (Die Bombe, die eine Schule in die Luft sprengen wird, explodiert in einer halben Stunde, der echt oder angeblich Verdächtige könnte wissen, wo sie versteckt ist.) In Israel ist das üblich. Prävention, die das Recht konsumiert, hat den Zug zur Totalität und Exzessivität.

Die Bürger lassen sich den Umbau des Rechtsstaats in den Präventionsstaat bis anhin gefallen, weil sie das Gros der Freiheitsbeschränkungen nicht spüren – die meisten der neuen Massnahmen finden heimlich statt. Es wächst aber ein neues Bewusstsein für die Privatheit; in Deutschland ist der Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung und vor allem gegen ein Gesetz zur heimlichen Durchsuchung von privaten Computern massiv: Viele Leute haben das unbehagliche und bedrohliche Gefühl, der Staat wolle ihnen ins Hirn schauen. Der Computer, die Festplatte, ist ja in der Tat so etwas wie ein ausgelagertes Gehirn.

Im übrigen ist es so, dass der Staat mit ständigen «Terrorwarnungen» die Angst vor der (bestehenden!) Gefahr noch forciert und steigert; mit wichtigtuerischem Geraune wird davon gesprochen, dass die «abstrakte Gefahr» sich verdichte; und die neuen Sicherheitsgesetze werden als Gegenmittel dargestellt. Daher findet bis jetzt Billigung, was angeblich die Gefahr entschärft. Angst ist eine Autobahn für Sicherheitsgesetze. Der Mechanismus der Angst funktioniert wie eine riesige Orgel: Vor ihr sitzen nicht nur Terroristen, sondern auch Politiker, Chefredaktoren und Chefkommentatoren. Diese Orgel verfügt über eine Klaviatur mit vielen Registern, ein Windwerk und eine Windlade. Und wenn von so vielen kräftig georgelt wird, erbebt und erschauert alles. Dann wird «Sicherheit» zu einem Wert, bei dem das blosse Versprechen das Prädikat «legislativ wertvoll» verdient; «Tauglichkeit» und «Verhältnismässigkeit» neuer Massnahmen, etwa eines Kriegs gegen einen Schurkenstaat, werden gar nicht mehr lang geprüft. Hauptsache, es geschieht etwas.

Der Guerrillero besetzt das Land, der Terrorist besetzt das Denken. Die Terroristen sind nach dem 11. September nicht, wie befürchtet, in Atomkraftwerke und Wasserversorgungsanlagen eingedrungen; nicht dort haben sie Unheil angerichtet und Verderben über das Land gebracht. Sie tun es auf andere, subtil gefährliche Weise: Sie haben sich der Schaltzentralen der westlichen Demokratien bemächtigt; sie beherrschen die Apparate und Brain-Trusts, in denen Recht produziert wird; sie verseuchen den Geist der Gesetze. Überall, in Washington, London, Paris und Berlin, werden vergiftete Paragraphen und Gesetzesartikel produziert, rechtsstaatliche Prinzipien geopfert.

Die bisherigen Fundamentalgewissheiten sind nicht mehr gewiss: die Gleichheit vor dem Gesetz, der Grundsatz des fairen Verfahrens, das Recht auf Akteneinsicht, die alsbaldige Kontrolle von Verhaftungen und sonstigen Grundrechtseingriffen durch unabhängige Richter, der Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten», die Genfer Konvention über die Behandlung von Gefangenen. Das Verbot menschenunwürdiger Vernehmungsmethoden wird gelockert und gebrochen: Wenn dem Delinquenten der Kopf so lange in die Badewanne oder die Kloschüssel gedrückt wird, bis er halb ersoffen ist, gilt das nicht als Folter, sondern lediglich als robuste Befragung, also als erlaubt.

Weltweit werden die bisherigen Fundamentalgewissheiten unter Vorbehalt gestellt. Der Vorbehalt lautet: Der rechtsstaatliche Katalog ist ja schön und gut, aber nur, solange er die Bekämpfung des Terrorismus nicht behindert. Am weitesten geht und ging dabei die US-Regierung. Dort ist der Rechtserosionsprozess schon weit fortgeschritten: Wer echt oder vermeintlich in den Dunstkreis des Terrorismus gerät, ist nahezu vogelfrei. Vogelfrei – das war im Mittelalter der friedlose Straftäter, über den die Reichsacht verhängt war. Niemand durfte ihn, bei Strafe, unterstützen, beherbergen, ernähren, er war aus der Rechts- und Friedensgemeinschaft ausgeschlossen, der Verfolgung durch jedermann preisgegeben. Heute bedeutet das in den USA: Wer des Terrorismus verdächtigt wird, verliert den rechtsstaatlichen Schutz.

Die alten Griechen erfanden den Argus: Der hatte die nach ihm benannten Argusaugen. Die Hälfte dieser Augen schlief jeweils, die andere Hälfte wachte; und weil sich die alten Griechen noch mehr Observation überhaupt nicht vorstellen konnten, gaben sie dem Argus den Beinamen Panoptes, der Allesseher. Wenn man ihm auch noch hundert Ohren gäbe – er wäre das passende Maskottchen für den Präven­tionsstaat, wie ihn die Politiker der inneren Sicherheit ­etablieren. Aber verglichen mit den neuen Überwachungstechniken, mit dem Millionen-Kameras-System in Grossbritannien beispielsweise, war Argus ein recht harmloser Geselle.

Sicherlich: Angst vor Kriminalität ist weder kleinbürgerlich noch reaktionär, sondern real und berechtigt. Jeder macht seine Erfahrungen damit, mit Autoaufbrüchen und Wohnungseinbrüchen, mit Strassenraub und der kriminellen Verelendung von Drogensüchtigen. Diese individuellen Erfahrungen werden von den Medien klischiert und multipliziert. Laut Kriminalstatistik sinken die Zahlen für die ­Gewaltkriminalität in Deutschland seit Jahren, die Sexualverbrechen sind besonders stark zurückgegangen – die ­Öffentlichkeit aber hat den Eindruck, die Zahlen seien ­regelrecht explodiert. Horrende Kriminalitätsangst und horrende Terrorismusangst sind Resultate medialer Darstellung von Kriminalität. Dort wird das Angstmachende vergröbert und vergrössert – der soziale Kontext, die Bedingungen und Folgen von Straftaten bleiben ausgeblendet.

Früher war der Mörder der Prototyp des Rechtsbrechers, fast ausschliesslich wurde über Kapitalverbrechen berichtet, so dass der Medienkonsument in jedem Straftäter auch ein Stück Mörder sah. Heute ist der Terrorist an die Stelle des Mörders von einst getreten. Er ist das Schreckensbild per se. Die politischen Debatten über innere Sicherheit konzentrieren sich auf Massnahmen gegen ihn, auf Massnahmen gegen einen winzigen, zugegebenermassen ­gefährlichen Ausschnitt aus dem kriminellen Gesamtgeschehen, den Terrorismus. Mit der Fixierung auf diesen winzigen Ausschnitt wird das gesamte System der inneren Sicherheit umgekehrt.

Wer Sicherheit mit allen Mitteln gewährleisten will, der stellt alles zur Disposition, was der Rechtsstaat an Regeln zur Vorbeugung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten eingeführt hat. Wer hier den grossen Kehraus veranstaltet, der kehrt, angeblich oder vermeintlich zur Verteidigung des Rechtsstaats, genau das weg, weswegen dieser Rechtsstaat verteidigt werden muss. Dann stirbt die Freiheit an ihrer Verteidigung. Was die westlichen Demokratien als Kampf gegen den Terrorismus bezeichnen, ist eher eine Flucht vor dem Terrorismus. Sie stellen sich der Bedrohung, indem sie vor ihr davonlaufen und dabei die Werte wegwerfen, auf die sie einst stolz waren. Der Westen ist, im canettischen Sinn, eine Fluchtmasse. Dem Terrorismus standhalten verlangt aber: an den Grundsätzen des Rechtsstaats festhalten. Der starke Staat ist der Staat, der seine Regeln verteidigt, nicht der, der sie aufgibt.

Die archaische Kultur von Minos hat dem Minotaurus alljährlich ihre Kinder geopfert, um Sicherheit zu gewinnen. Eine demokratische Kultur, die ihre Prinzipien dem Terrorismus in den Rachen wirft, handelt nicht anders. Der Rechtsstaat übernimmt dann selbst die Zerstörung dessen, was ihn ausmacht. Wie soll der Staat aussehen, in dem unsere Enkel leben? Mauern um die Ghettos der Reichen? Die Grundrechte auf dem Friedhof? Risikopersonen hinter Gittern? Das ganze Land unter Totalüberwachung? Die Menschen unter Dauerkontrolle?

Es gehört zu den natürlichen Reaktionen auf monströse Verbrechen und auf terroristische Anschläge, dass die innere Sicherheit ins Wanken gerät: die innere Sicherheit der Bürger darüber, ob die Gesetze auch so sind, wie sie sein sollen. Ob die Bürger ihre Sicherheit leidlich wiedergewinnen, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die Politiker auf diese innere Verunsicherung reagieren: Geben sie der Versuchung nach, den Gesetzgeber zu immer neuen Höchstleistungen anzt bestärken. Politik sollte nicht den Zweifel am Rechtsstaat schüren, sondern das Vertrauen in ihn stärken – und den Stolz auf die Werte, die sich in ihm manifestieren. Innere Sicherheit verlangt innere Festigkeit.

In einem masslosen Staat gibt es vielleicht ein wenig mehr Sicherheit, aber ganz sicher sehr viel weniger Freiheit. Ein Staat, der ständig sein Recht verkürzt und in dem Grundrechte dem Bürger nur noch dem Grunde nach zustehen, ist nicht stark, sondern schwach. Er hat keine Autorität mehr, sondern verliert sie in dem ständigen Versuch, sie legislativ zu beweisen. Das legislative Heilmittel gegen den Terrorismus gibt es nicht.

Stark ist also nicht der Staat, der seinen Bürgern mit einem Generalverdacht gegenübertritt und der grundsätzlich jedem misstraut. Stark ist der Staat, der seine Prinzipien mit kühlem Kopf verteidigt. Dieser Staat muss seinen Bürgern alle Wachsamkeit versprechen – und dieses Versprechen halten; und er muss seinen Bürgern die Wahrheit sagen: dass er, bei aller Wachsamkeit, Risiken nicht ausschalten kann.

Jean-Claude Cantieni – Aus meiner ‹Feder› stammt die längere Einleitung – der Rest ist konsultiert, er hat mich stimuliert.