Portrait des «Schweiz. Verein für freies Christentum»

Ein Portrait des «Schweizerischer Verein für freies Christentum – libref.» – hat Jean-Claude Cantieni zusammengestellt:

«Reformkreise, welche die Staatskirche des frühen 19. Jahrhunderts bekämpften, gründeten den Schweizerischen Verein für freies Christentum 1871, um eine Bekenntniserneuerung und freierer Formen der Liturgie zu erwirken, Dogmen zu bestreiten: Die Bibel ist das Objekt der Religion, dessen Studium Ideen entspringen, und das Christentum als Geschichte ist die eines Verlierers, darin die Stimme Gottes trotzdem hörbar blieb. Stimme Gottes, kein Text, lautete und lautet das Credo freier Protestanten. Die Bibel ist eine Chance, diese Stimme inhaltlich und doch vorurteilsfrei zu erörtern, zu diskutieren. Wir gestehen der Bibel eine Art Definitionshoheit gerne insoweit zu, als ‚die religiöse Frage’ darin so definiert erscheint, dass keine vorschnellen Antworten den freien Diskurs übers göttliche Vertrauen in uns und dasjenige damit unter uns hemmen, so dass Welt in Besonnenheit zu Ende zu denken, statt ein Weltende zu fürchten ist.

Die Schweiz befand sich nach dem Aufbruche der Französischen Revolution, die Napoleon mit dem Bajonett ins Land getragen hatte, in einer Restaurationsphase zusammen mit dem übrigen Europa: Regierungsmitglieder sassen in Kirchengremien – teils auch protestantische selbst bspw. im Domkapitel des Bistums Chur – in Gremien, in welchen der geistliche Stand in Synoden das Sagen hatte. Unser Verein wollte die Freiheit des einzelnen Gewissens deshalb in den Verfassungsrang heben, wie denn auch in der ersten grossen Verfassungsnovelle von 1874 geschehen. Die freien Protestanten hatten sich als ‚Lobby’ bewährt. Die Freiheit des Gewissens, Freiheit des Wissens und des Glaubens kommt seither noch vor der Freiheit der Kirche, und insoweit spiegelt sich in der Gründungsgeschichte des freien Christentums der Schweiz auch der Kulturkampf zwischen den Katholischen & Reformierten, der noch dadurch verschärft wurde, dass die Katholische Kirche dem Papst als ausländischer Macht attestierte, ex cathedra über das einzelne Gewissen verfügen zu können. Die Lockerung kam erst im Vaticanum II. So wollte und will das freie Christentum, heute unter dem Kürzel libref. das ‚Wunder der Freiheit’ verteidigen, das heute immer noch gefährdet ist, indem Träger der Freiheit unter staatlichem Vorzeichen ‚der’ Mensch, die Gattung Mensch statt die Person als Sitz des Gewissens ist. Der juridische Naturalismus etwa in der aktuellen Ethikdebatte zum Embryonenschutz einerseits, zur aktiven Sterbebegleitung anderseits zeigt, wie sehr Person und Mensch unter dem staatlichen Gleichbehandlungspostulat kurzgeschlossen werden. Der Unterschied, die Alternative, eine Kultur der Differenz im aushalten des ‚Andern’ als Stil will betont sein. Die Alternative ist schon selbst eine Form des Liberalen, Freiheit des Denkens & Glaubens.

Henry Dunant hatte soeben das Rote Kreuz gegründet, Krankenschwestern als eigner Berufstand, Diakonie, waren nun gefragt. Aus dem freien Protestantismus heraus wurde das Schwesternhaus des Roten Kreuzes in Zürich-Fluntern durch Hermann W. Bion gegründet, wurde Theologie praktisch. Auch Pestalozzis Wirken dafür, dass im Hause zu beginnen hat, was im Vaterlande leuchten soll, blieb in Erinnerung. Das Volksschriftenkomitée des SVffr.Chr. gab durch Pfarrer R. Grubenmann in Chur ein gebets- & Andachtsbuch (bis in 7. Auflage) heraus, das sich an die familiäre Sitte des Betens in häuslichem Gottesdienste wandte. ‚Besser werden, nicht es besser haben ’mit diesen Worten wandte sich J. Baur an der Jahresversammlung von 1884 gegen die drohende Zweiklassengesellschaft im anbrechenden Industriezeitalter.

Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts erschütterten den Optimismus des freien Protestanten, welcher sich eher an der Würde der Person als an der Schuld der Menschheit orientierte. Eine Jahresversammlung in der Zwischenkriegszeit (horribile dictu) verinnerlichte die personale Freiheit in durch die Geschichte verschütteten Schichten der Psyche. Glaubenswissenschaft ortete Religion in der Teilhabe an der ecclesia invisibilis aller, die von Christus erfasst sind. Der freie Protestantismus ist die andere Seite der in Machtfragen mitverwickelten Kirche, die religiöse Persönlichkeit und das Reich Gottes waren das Bezugspaar.

Mit der Moderne wurde Religion vieldeutiger. Ihr äusserster Bezugsrahmen – und zugleich ihr Kern – bleibt dennoch Freiheit nicht die Wahrheit an sich, die eine Religion vür sich beansprucht. Das Wahre ist die Wahrheit (Max Weber). Neue Chancen für die (Selbst-)Erfahrung von Religion ergaben und ergeben sich hieraus. Der freie Protestantismus öffnete sich dem Dialog der Religionen u.a. an einer kürzlichen Jahresversammlung im Kloster Kappel. Klar wurde dabei auch, dass das damalige Versöhnungs-Modell im multikonfessionellen Umfelde nicht mehr praktizierbar war. Öffentliches Denken, die Parrhesia, auf welche das antike Griechentum pochte, und dank welchem Paulus in Athen den ‚unbekannten Gott’ predigen konnte, war und ist gefragt. Eine Synode in Bivio, dem Ort, von dessen Bergsee am Longhin drei Flüsse in drei Meere strömen, dessen Einwohner sich in mindestens vier Sprachen verständigen, und wo die früheste freie Pfarrwahl unter den Glaubensgenossen vielleicht europaweit vorbildlich gewährt war, bestärkte in der Zuversicht des Dialogs. Ein liberaler Muslim, schweizerisch-pakistanischer Doppelbürger, wirkte erstmals mit unter freien Protestanten, mehr als nur geduldet.

Die wirtschaftliche Grosswetterlage verdüstert sich. In Hochkonjunkturzeiten war Toleranz ziemlich problemlos zu praktizieren. Wenn sich nun Differenzen verschärfen, wird der Umgang schwieriger, das freie Christentum auferlegt sich deshalb eine Kultur der Differenz zu sich selber und im Verhältnis zum andern, eingedenk der Andersartigkeit des von Paulus im damaligen Athen gepredigten ‚unbekannten’ Gottes, dessen Bekanntheit von so vielen Menschen heute fingiert wird. Die Demut des Nichtwissens will als Chance für Toleranz dem Leben selbst gegenüber verstanden in einer Zeit sein, in welcher wir alle an unsrer massgeschneiderten Konfession weben und zugleich kollektive Sicherheiten reklamieren statt Wagnisse eingehn. Der Aufklärer Friedrich der Grosse verfasste ein Traktat ‚Von der Eigenliebe zur Vaterlandsliebe’. Transponieren wir dieses Vaterland ins Sacrum imperium der Glaubensfreiheit dessen, dass Ostern heisst: ‚Wo zwei oder drei in meinem Namen als des ‚Andern’ versammelt sind , bin ich mitten unter ihnen’ (statt in einen paternalistisch organisierten Himmel entrückt auferstanden).

Die Bibel selbst fordert und fördert ein Engagement , auf Sicherheiten, auch Glaubenssicherheiten zu verzichten, sich zu exponieren. Christus starb, für einen kurzen Moment vom Vater verlassen, am Kreuze im Bewusstsein seines Aufgenommenwerdens beim himmlischen Vater, Selbtmordattentäter sterben in der Erwartung eines überirdischen, mit sinnlichen Ködern gespickten Lohns, Sokrates hatte diese Sicherheit nicht. Er nahm den Schierlingsbecher mit den durch Platon überlieferten Worten: ‚Es ist Zeit, von hier zu gehen, für mich, um zu sterben, für euch, um zu überleben. Wer zum Bessern kommt, weiss einzig Gott’, ‚etsi deus daretur’ falls Gott existiert, würde ein akademischer wichtiger Gedankenanreger des freien Protestantismus der neuern Zeit (1922-1977), Ulrich Neuenschwander, hinzufügen. Dieses ‚als ob’ verlangt Durchhaltevermögen, den guten Kampf im Glaubenhalten durchfechten, die Suche nach Argumenten, nicht Dogmen, die Fragen anmassend präjudizieren. Preisausschreiben, prominent juriert und in der Öffentlichkeit kommuniziert, zu Gedanken- & Glaubensgut des freien Protestantismus, sollen die argumentative Praxis im Vorletzten kräftigen, um, wenn wir nochmals zu Sokrates zurückkehren wollen, auf einem göttlichen Wort hindurch zu schiffen, hoffend in Glauben und Liebe, das Erwartete nicht selbstbetrügerisch vorwegnehmen wollend. Als liberale Christen begnügen wir uns mit Glaube, Liebe Hoffnung; Hoffnung, die sich von Projektionen abgrenzt, verharren bescheiden in der Hoffnung, ohne das Himmelreich durch eine neue Praesumptio, mit welcher Gott auf die Erde gezwungen sein will, vorweg nehmen zu wollen: Hoffen mag zwar mühseliger, doch vielleicht wahrer sein. Argumente stärken den Durchhaltewillen im Hoffen.

Über Stiftungen wie die Neuenschwander-Stiftung, doch auch die Heinrich Lang nachbenannte Langstiftung wird in liberale Theologie durch Publikationsbeiträge, Studienausbildung, in die Lehre investiert. Luther lehrte zwar, ‚er möge nit leiden Mass, die Schrift auszulegen’ (1520). Das Wort Gottes lehre selbst schon Freiheit. Das will in aller Masslosigkeit, Anmassung, medialer Manipulation, Bilderseligkeit… von heute neu verstanden sein: Auch ein Menschenrecht auf recht verstandne Freiheit? – Die Bundesverfassung kennt keinen Religionsartikel mehr. Vielleicht, dass dem liberalen Protestantismus wie 1871 zu seiner Gründung als Verein ein Mandat zuwächst, einen Artikel zu präsentieren, wonach Staat & Kirche sich zusammen sich auf eine Menschenwürde hin verpflichten, welche dazu zu verhalten hat, einen freien Gewissensentscheid in einer Welt von lediglicher Konditionierung auch effektiv auszuüben, deren übermächtige ideologische Maske zu durchbrechen, um dahinter aufs ‚wahre Gesicht’ zu stossen. Die Maske ist im Alltagsleben ja wirkmächtiger als das Gesicht, worunter Selbstverständnis, ein dringendes aufklärerisches Postulat, wie Selbstverständlichkeiten strapaziert werden. Mit dem Prix libref. ehrte deshalb der Verein Frau Dr. h.c. Gret Haller für ihr menschenrechtliches Engagement an seiner letzten Jahresversammlung in Luzern. Im menschenrechtlichen Leitbegriff der Menschenwürde, die sich von einer Religion abhebt, welche Sünde in den Mittelpunkt stellt, will ein Epochenaufbruch mit verstanden sein. Eine zweite Aufklärung unter den Völkern hat begonnen, die besagt, dass die Welt in ihrem Wesen den Menschen in seinem Denken und im seinen Denken als Mensch braucht. Wir engagieren uns für ein Wesen des Menschlichen, das im Denken der Wahrheit des Seins in Gott beruht. Beruht? Ruch statt Ruhe steckt darin.

Libref. widmet sich den Menschen- Rechten, um in ihnen die Menschenwürde zu ahnen, wofür Gott selbst einsteht, woraus natürlich- ‚heilige’ Verpflichtungen in Zeit und Raum, die verborgne Freiheit des Evangeliums wahrzunehmen, in die Wahr zu nehmen.»

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Text und Foto: Stephan MartiFinanzblog