Das legislative Heilmittel gegen den Terrorismus gibt es nicht


Der norwegische Attentäter wird sich zwar kaum religiös rechtfertigen wollen,doch wird über einen religiösen Hintergrund gemunkelt. Eine verletzliche Glaubensfreiheit erscheint so doch als erst recht verteidigungswürdig (wie die Norweger das tun), indem Sicherheitskreise über Religion auf die Glaubensfreiheit verfügen wollen? Freiheiten sind mehr denn ein Definitionsproblem.

‚Wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten’, lautet der Hauptsatz, den Sicherheitsexperten nun nach den Attentaten in Oslo und auf der Ferieninsel davor rezitieren, um Freiheit und Sicherheit in ihrem Verhältnisse zu Gunsten von mehr Sicherheit neu zu definieren. Doch; Sicherheit rührt aus Misstrauen, das neue Konflikte schürt, urteilte der Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, um sinngemäss zu folgern, dass Freiheit ein Wagnis in einer Welt ist, die nicht Reich Gottes, sondern bestenfalls eine Welt ist, mit der Gott sich versöhnt hat. Dieses geistige Vermächtnis des im eignen Opfer Erprobten – crede perito – ist zu pflegen, wenn Sicherheitsdenken nun weiters grassiert. Seit dem 11. September 2001 ist die Politik der westlichen Welt dabei, Prävention zu propagieren und dafür das (Freiheit-) Recht zu instrumentalisieren. Angst, die – sprichwörtlich – ein guter Diener doch ein schlimmer Herrscher ist, wird geschürt. Übersehn wird, dass das Recht, zumal Sicherheits-, d.h. Polizeirecht seinerseits Gewaltsamkeit in einer Grauzone von Sicherheit und Freiheit in sich birgt. Staaten entstehn bis heute meist gewaltsam, neue Staaten setzen bisheriges Recht ausser Kraft, inthronisieren neues. Selbst die Schweiz ging aus einem ‚Sonderbundskrieg’ und einem Siegerdiktat danach hervor. Wir brauchen auf keine ‚alte Geschichten’ um Wilhelm Tell zurück zu greifen.

Wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten? Ob so nicht die Glaubens- & Gewissensfreiheit selbst zu strapazieren ist Glaube verbirgt zwar nichts, doch er hütet Geheimnisse, die Sicherheitsdiensten als suspekt erscheinen mögen. Glaube ist Kunst der Initiation, praktisches Unterweisen im Wahren und Weitergeben von Glaubensgeheimnissen, was heute schon dadurch gefährdet ist, dass ein Aussagen von Wahrheiten ohnehin grassiert. Eine Praxis des Geständnisses greift um sich. Selbst Protestanten soll im Inernet eine Platform für eine (öffentliche) Beichte geboten werden… Die Sicherheitsdienste werden um so mehr danach verlangen, (Glaubens-)Wahrheiten zu erforschen, um religiösen Irrläufern auf die Spur zu kommen. Doch sie werden sich keineswegs an ihre Spur heften, sondern ihnen zuvorkommen wollen, Wahrheiten selbst schaffen wollen, d.h. Glaubwürdigkeit definieren wollen, und spätestens hier hat Pro-Test einzusetzen. Was je glaubwürdig ist, ist ‚ jeder Person mit historischer Begründung’ selber anvertraut. Die abendländische Geschichte zielt seit Paulus auf diesen personalen Gewissensentscheid. Er ist verfassungsmässig geschützt, anders Religionsfreiheit, d.h. die religiöse Praxis der Kirchen und der Person. Andreas B. wird kirchlich fundamentalistischen Kreisen zugeordnet. Sein Diferenzierungsvermögen, zwischen Glauben und Religion zu trennen, fehlte. Während Glaubensfreiheit ein geschützter Rechtstitel ist, ist Religionsfreiheit angemasst, worauf eine Kolumne in der ‚Weltwoche’ kürzlich verwies. Diese Differenz weiters herauszuarbeiten ,ist Aufgabe nach Nine eleven dem Massenmord zumal auch an Jugendlichen in Norwegen geworden. Glaubensfreiheit kann dadurch gewinnen, Differenzieren setzt frei.

Cui bono, fragten die alten Römer. Wem nützt was? Werden nicht Terroristen zum Gesetzgeber (Heribert Bartl), d.h. öffnen sich so nicht neue rechtsfreie Räume, in die neue Gewalt statt Freiheit einzieht, wenn aktionistisch ausgeblendet wird, dass wir uns für die Freiheit entschieden haben. Nine eleven und nun die neuliche Bluttat in Norwegen haben die Würde unserer Zivilisation beleidigt. Sie ist durch keine ‚proaktive’ Polizei zu ‚reparieren’. Die Diskussion darüber ist in den Dialog zwischen Kirche und Staat zu lenken, deren vertrauensvolles Verhältnis neu zu definieren ist. Beide sind in ihren Versprechen ohne Zusammenarbeit je für sich überfordert.

Allenfalls, dass er, sein Telefon oder sein Konto ab und zu heimlich und «verdachtsunabhängig» kontrolliert wird, wenn der Mensch nicht so ausschaut oder sich nicht so verhält, wie ein Polizist, ein Grenz- oder Verfassungsschützer sich einen braven Bürger vorstellen. Aber solche Kontrollen müsse man, so meinen die Politiker, im Interesse von mehr innerer ­Sicherheit in Kauf nehmen.

Hinter der vermeintlichen Harmlosigkeit dieser Sätze steckt eine fundamentale Neuorientierung der Sicherheitspolitik: Jede einzelne der vielen neuen Massnahmen mag, für sich genommen, noch für tolerabel gehalten werden. Von einer einzelnen Videokamera geht keine Gefahr aus, von einer einzelnen Speichelprobe, die von einem völlig unverdächtigen Menschen genommen wird, auch nicht. Wenn der Mensch aber überall mit Videokameras beobachtet wird, wenn mit Erfassungssystemen festgehalten wird, wo und wann er welche Strassen benutzt, wenn die Daten seiner Flüge registriert, seine dortigen Essgewohnheiten festgehalten, seine Computer elektronisch durchsucht, seine Bankkonten staatlich visitiert, seine Persönlichkeitsdaten, seine Krankheiten und Gebrechen zentral abrufbar werden, dann ergibt sich die gefährliche Totalität aus der Summe.

Die Erfassungsnetze, die alle Bürger umfassen, werden immer dichter, die beobachtungsfreien Zonen immer kleiner. Der Mensch wird zum Beobachtungsobjekt. Beobachtungsobjekte sind oder werden unfrei. Die Menschen, die in der DDR lebten, wissen, wie das funktioniert; der Regisseur Henckel von Donnersmarck hat es in seinem Film «Das Leben der Anderen» geschildert. Aus dem freiheitlichen Rechtsstaat wird so ein fürsorglicher Präventionsstaat, der seine Bürger nicht mehr als unverdächtig, sondern als potentiell verdächtig, als «noch» nicht verdächtig betrachtet.

Palinurus, der sagenhafte Steuermann des Äneas, war am Ruder eingeschlafen und musste diese Fahrlässigkeit mit dem Leben bezahlen: Im Schlaf wurde er von Bord gespült und dann von den Eingeborenen an Land erschlagen. Seit dem 11. September 2001 reden und handeln die Politiker der inneren Sicherheit so, als sei freiheitliche Demokratie eine palinurische, eine fahrlässig unachtsame Demokratie. Sie behaupten, die westliche Gesellschaft habe es mit der Freiheit und Offenheit, der Liberalität, der Toleranz und dem Rechtsstaat übertrieben und erhalte nun die Quittung in Form von islamistischem Terrorismus. Die zivilisatorischen Grundwerte sind unter Generalverdacht geraten.

Im fürsorglichen Präventionsstaat sind die Grenzen zwischen Unschuldigen und Schuldigen, zwischen Verdächtigen und Unverdächtigen aufgehoben. Bisher hat das Recht hier sehr genau unterschieden. Nun aber gilt jeder Einzelne zunächst einmal als Risikofaktor, jeder Einzelne muss es sich daher gefallen lassen, dass er, ohne einen konkreten Anlass dafür geliefert zu haben, «zur Sicherheit» überwacht wird. Die EU-Richtlinie zur verdachtsunabhängigen Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten ist in allen Ländern der Europäischen Union grosszügig in nationales Recht umgesetzt worden. Das bedeutet: Alle Telekommunikationsdaten (wer hat mit wem wie lange mobil oder per Festnetz telefoniert) und alle Internetdaten (wer hat mit wem wann E-Mails ausgetauscht, und wer hat wann welche Internetseiten aufgerufen) werden «auf Vorrat» gespeichert – es könnte ja sein, dass man diese Daten noch zu Ermittlungszwecken braucht.

Wenn sich dann ergibt, dass der so Beobachtete, Registrierte, Belauschte und Geprüfte nicht gefährlich ist, wird er wieder zum Bürger. Jeder Einzelne gilt als potentiell verdächtig – so lange, bis sich durch die Kontroll- und Über­wachungsmassnahmen seine Entlastung ergibt. Bisher war das umgekehrt: Wer keinen Anlass für staatliches Eingreifen gegeben hatte, wurde in Ruhe gelassen. Jeder konnte also durch sein eigenes Verhalten den Staat auf Distanz halten. Man nannte das Rechtsstaat.

Es geht der Politik, welche die neuen Sicherheitsgesetze schafft, nicht mehr um die Verfolgung begangener Straf­taten, auch nicht mehr primär um die Verhinderung einzelner krimineller Handlungen. Es geht vielmehr darum, ein Frühwarnsystem zu errichten. Zwischen Polizei und Geheimdienst wird dabei nicht mehr unterschieden. Es entsteht ein einheitliches vernetztes Sicherheitssystem, in dem geheimdienstliche (also rechtsstaatlich kaum kontrollierte) Ermittlungsmethoden allgemeiner Standard werden. Es werden, und das ist der Preis dieses Frühwarn­systems, Mittel und Methoden angewendet (heimliches Abhören und heimliche Kontrollen), die im Strafrecht nur gegen Verdächtige möglich waren.

So werden Grundrechte banalisiert. Der neue Präven­tionsstaat zehrt von den Garantien des Rechtsstaats; er entsteht, indem er sie verbraucht. Das ist – weltweit – das Grundproblem der derzeitigen Politik der inneren Sicherheit: Der Präventionsstaat muss, das liegt in seiner Logik, dem Bürger immer mehr Freiheit nehmen, um ihm dafür Sicherheit zu geben; das trägt den Hang zur Mass­losigkeit in sich, weil es nie genug Sicherheit gibt.

Wenn der Staat wirklich «alles» tun muss, um Sicherheit vor Terrorismus zu gewährleisten, dann ist die Politik noch lange nicht fertig: Dann müssen solche «Gefahrpersonen» vorbeugend inhaftiert werden, die zwar noch keine Straftaten begangen haben, von denen die Behörden aber glauben, dass sie Straftaten begehen könnten. Die Logik des Präventionsstaats führt also zur Vorbeugehaft, auch langjährig, zur Schutzhaft, zur Langzeitquarantäne – wie immer man solch präventives Einsperren nennen möchte. Und ist es nicht geradezu eine Pflicht des Präventionsstaates, in den «Ticking-bomb-Fällen» zur Folter zu greifen? (Die Bombe, die eine Schule in die Luft sprengen wird, explodiert in einer halben Stunde, der echt oder angeblich Verdächtige könnte wissen, wo sie versteckt ist.) In Israel ist das üblich. Prävention, die das Recht konsumiert, hat den Zug zur Totalität und Exzessivität.

Die Bürger lassen sich den Umbau des Rechtsstaats in den Präventionsstaat bis anhin gefallen, weil sie das Gros der Freiheitsbeschränkungen nicht spüren – die meisten der neuen Massnahmen finden heimlich statt. Es wächst aber ein neues Bewusstsein für die Privatheit; in Deutschland ist der Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung und vor allem gegen ein Gesetz zur heimlichen Durchsuchung von privaten Computern massiv: Viele Leute haben das unbehagliche und bedrohliche Gefühl, der Staat wolle ihnen ins Hirn schauen. Der Computer, die Festplatte, ist ja in der Tat so etwas wie ein ausgelagertes Gehirn.

Im übrigen ist es so, dass der Staat mit ständigen «Terrorwarnungen» die Angst vor der (bestehenden!) Gefahr noch forciert und steigert; mit wichtigtuerischem Geraune wird davon gesprochen, dass die «abstrakte Gefahr» sich verdichte; und die neuen Sicherheitsgesetze werden als Gegenmittel dargestellt. Daher findet bis jetzt Billigung, was angeblich die Gefahr entschärft. Angst ist eine Autobahn für Sicherheitsgesetze. Der Mechanismus der Angst funktioniert wie eine riesige Orgel: Vor ihr sitzen nicht nur Terroristen, sondern auch Politiker, Chefredaktoren und Chefkommentatoren. Diese Orgel verfügt über eine Klaviatur mit vielen Registern, ein Windwerk und eine Windlade. Und wenn von so vielen kräftig georgelt wird, erbebt und erschauert alles. Dann wird «Sicherheit» zu einem Wert, bei dem das blosse Versprechen das Prädikat «legislativ wertvoll» verdient; «Tauglichkeit» und «Verhältnismässigkeit» neuer Massnahmen, etwa eines Kriegs gegen einen Schurkenstaat, werden gar nicht mehr lang geprüft. Hauptsache, es geschieht etwas.

Der Guerrillero besetzt das Land, der Terrorist besetzt das Denken. Die Terroristen sind nach dem 11. September nicht, wie befürchtet, in Atomkraftwerke und Wasserversorgungsanlagen eingedrungen; nicht dort haben sie Unheil angerichtet und Verderben über das Land gebracht. Sie tun es auf andere, subtil gefährliche Weise: Sie haben sich der Schaltzentralen der westlichen Demokratien bemächtigt; sie beherrschen die Apparate und Brain-Trusts, in denen Recht produziert wird; sie verseuchen den Geist der Gesetze. Überall, in Washington, London, Paris und Berlin, werden vergiftete Paragraphen und Gesetzesartikel produziert, rechtsstaatliche Prinzipien geopfert.

Die bisherigen Fundamentalgewissheiten sind nicht mehr gewiss: die Gleichheit vor dem Gesetz, der Grundsatz des fairen Verfahrens, das Recht auf Akteneinsicht, die alsbaldige Kontrolle von Verhaftungen und sonstigen Grundrechtseingriffen durch unabhängige Richter, der Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten», die Genfer Konvention über die Behandlung von Gefangenen. Das Verbot menschenunwürdiger Vernehmungsmethoden wird gelockert und gebrochen: Wenn dem Delinquenten der Kopf so lange in die Badewanne oder die Kloschüssel gedrückt wird, bis er halb ersoffen ist, gilt das nicht als Folter, sondern lediglich als robuste Befragung, also als erlaubt.

Weltweit werden die bisherigen Fundamentalgewissheiten unter Vorbehalt gestellt. Der Vorbehalt lautet: Der rechtsstaatliche Katalog ist ja schön und gut, aber nur, solange er die Bekämpfung des Terrorismus nicht behindert. Am weitesten geht und ging dabei die US-Regierung. Dort ist der Rechtserosionsprozess schon weit fortgeschritten: Wer echt oder vermeintlich in den Dunstkreis des Terrorismus gerät, ist nahezu vogelfrei. Vogelfrei – das war im Mittelalter der friedlose Straftäter, über den die Reichsacht verhängt war. Niemand durfte ihn, bei Strafe, unterstützen, beherbergen, ernähren, er war aus der Rechts- und Friedensgemeinschaft ausgeschlossen, der Verfolgung durch jedermann preisgegeben. Heute bedeutet das in den USA: Wer des Terrorismus verdächtigt wird, verliert den rechtsstaatlichen Schutz.

Die alten Griechen erfanden den Argus: Der hatte die nach ihm benannten Argusaugen. Die Hälfte dieser Augen schlief jeweils, die andere Hälfte wachte; und weil sich die alten Griechen noch mehr Observation überhaupt nicht vorstellen konnten, gaben sie dem Argus den Beinamen Panoptes, der Allesseher. Wenn man ihm auch noch hundert Ohren gäbe – er wäre das passende Maskottchen für den Präven­tionsstaat, wie ihn die Politiker der inneren Sicherheit ­etablieren. Aber verglichen mit den neuen Überwachungstechniken, mit dem Millionen-Kameras-System in Grossbritannien beispielsweise, war Argus ein recht harmloser Geselle.

Sicherlich: Angst vor Kriminalität ist weder kleinbürgerlich noch reaktionär, sondern real und berechtigt. Jeder macht seine Erfahrungen damit, mit Autoaufbrüchen und Wohnungseinbrüchen, mit Strassenraub und der kriminellen Verelendung von Drogensüchtigen. Diese individuellen Erfahrungen werden von den Medien klischiert und multipliziert. Laut Kriminalstatistik sinken die Zahlen für die ­Gewaltkriminalität in Deutschland seit Jahren, die Sexualverbrechen sind besonders stark zurückgegangen – die ­Öffentlichkeit aber hat den Eindruck, die Zahlen seien ­regelrecht explodiert. Horrende Kriminalitätsangst und horrende Terrorismusangst sind Resultate medialer Darstellung von Kriminalität. Dort wird das Angstmachende vergröbert und vergrössert – der soziale Kontext, die Bedingungen und Folgen von Straftaten bleiben ausgeblendet.

Früher war der Mörder der Prototyp des Rechtsbrechers, fast ausschliesslich wurde über Kapitalverbrechen berichtet, so dass der Medienkonsument in jedem Straftäter auch ein Stück Mörder sah. Heute ist der Terrorist an die Stelle des Mörders von einst getreten. Er ist das Schreckensbild per se. Die politischen Debatten über innere Sicherheit konzentrieren sich auf Massnahmen gegen ihn, auf Massnahmen gegen einen winzigen, zugegebenermassen ­gefährlichen Ausschnitt aus dem kriminellen Gesamtgeschehen, den Terrorismus. Mit der Fixierung auf diesen winzigen Ausschnitt wird das gesamte System der inneren Sicherheit umgekehrt.

Wer Sicherheit mit allen Mitteln gewährleisten will, der stellt alles zur Disposition, was der Rechtsstaat an Regeln zur Vorbeugung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten eingeführt hat. Wer hier den grossen Kehraus veranstaltet, der kehrt, angeblich oder vermeintlich zur Verteidigung des Rechtsstaats, genau das weg, weswegen dieser Rechtsstaat verteidigt werden muss. Dann stirbt die Freiheit an ihrer Verteidigung. Was die westlichen Demokratien als Kampf gegen den Terrorismus bezeichnen, ist eher eine Flucht vor dem Terrorismus. Sie stellen sich der Bedrohung, indem sie vor ihr davonlaufen und dabei die Werte wegwerfen, auf die sie einst stolz waren. Der Westen ist, im canettischen Sinn, eine Fluchtmasse. Dem Terrorismus standhalten verlangt aber: an den Grundsätzen des Rechtsstaats festhalten. Der starke Staat ist der Staat, der seine Regeln verteidigt, nicht der, der sie aufgibt.

Die archaische Kultur von Minos hat dem Minotaurus alljährlich ihre Kinder geopfert, um Sicherheit zu gewinnen. Eine demokratische Kultur, die ihre Prinzipien dem Terrorismus in den Rachen wirft, handelt nicht anders. Der Rechtsstaat übernimmt dann selbst die Zerstörung dessen, was ihn ausmacht. Wie soll der Staat aussehen, in dem unsere Enkel leben? Mauern um die Ghettos der Reichen? Die Grundrechte auf dem Friedhof? Risikopersonen hinter Gittern? Das ganze Land unter Totalüberwachung? Die Menschen unter Dauerkontrolle?

Es gehört zu den natürlichen Reaktionen auf monströse Verbrechen und auf terroristische Anschläge, dass die innere Sicherheit ins Wanken gerät: die innere Sicherheit der Bürger darüber, ob die Gesetze auch so sind, wie sie sein sollen. Ob die Bürger ihre Sicherheit leidlich wiedergewinnen, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die Politiker auf diese innere Verunsicherung reagieren: Geben sie der Versuchung nach, den Gesetzgeber zu immer neuen Höchstleistungen anzt bestärken. Politik sollte nicht den Zweifel am Rechtsstaat schüren, sondern das Vertrauen in ihn stärken – und den Stolz auf die Werte, die sich in ihm manifestieren. Innere Sicherheit verlangt innere Festigkeit.

In einem masslosen Staat gibt es vielleicht ein wenig mehr Sicherheit, aber ganz sicher sehr viel weniger Freiheit. Ein Staat, der ständig sein Recht verkürzt und in dem Grundrechte dem Bürger nur noch dem Grunde nach zustehen, ist nicht stark, sondern schwach. Er hat keine Autorität mehr, sondern verliert sie in dem ständigen Versuch, sie legislativ zu beweisen. Das legislative Heilmittel gegen den Terrorismus gibt es nicht.

Stark ist also nicht der Staat, der seinen Bürgern mit einem Generalverdacht gegenübertritt und der grundsätzlich jedem misstraut. Stark ist der Staat, der seine Prinzipien mit kühlem Kopf verteidigt. Dieser Staat muss seinen Bürgern alle Wachsamkeit versprechen – und dieses Versprechen halten; und er muss seinen Bürgern die Wahrheit sagen: dass er, bei aller Wachsamkeit, Risiken nicht ausschalten kann.

Jean-Claude Cantieni – Aus meiner ‹Feder› stammt die längere Einleitung – der Rest ist konsultiert, er hat mich stimuliert.

Bekenntnisprozess – Bekenntnisfreiheit


«Die Reformierten bekennen Mühe mit dem Bekennen

Sie leben seit über 150 Jahren bekenntnisfrei, schreibt Reformiert in einem Bericht über den Bekenntnisprozess des SEK. Die erwähnte Seite 167 meines Namensvetter Kurt Marti über das Bekenntnis, zitiere ich in voller Länge:

«

«

Die Seite des Werkbuchs ist leer, damit jeder sein eigenes Bekenntnis formulieren kann. Er sagt: «Für mich ist Gott kein Monopolist«.

Lassen wir noch einen zweiten Berner Pfarrer zu Wort kommen. Max Balsiger, unser Ehrenmitglied und langjähriger Präsident schreibt es noch bestimmter:

Unvollständig

Im Bericht von der Preisverleihung an Gret Haller fällt beiläufig die Bemerkung, liberaler Protestantismus habe sich stets für «Bekenntnislosigkeit» in der Kirche eingesetzt. Das stimmt nicht. Richtig wäre, von «Bekenntnisfreiheit» zu sprechen. Dies ist ein Begriff, der in der Schweiz auf dem beschwerlichen Weg zu einem Weltkirchenrat eine eminent wichtige Rolle gespielt hat und den Kirchenbund 1940 beim Grundsatzbeschluss und 1948 bei der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rats in Amsterdam zu einem ausdrücklichen Vorbehalt gegenüber der verordneten Basisformel (=Bekenntnis) veranlasst hat. Der leider in Vergessenheit geratene Vorbehalt markiert bis heute den Zwiespalt zwischen einem verbindlich formulierten, von den Gläubigen kollektiv «anzunehmenden» Bekenntnis auf der einen Seite und dem freien Akt persönlichen Bekennens andererseits. Solches Bekennen durch das Individuum muss in Worten nicht übereinstimmen mit einem vorgegebenen Text wie dem sog. «Apostolischen Glaubensbekenntnis». Diesem fehlt ohnehin etwas für den christlichen Glauben Wesentliches, nämlich jeder Bezug auf die überlieferte Botschaft Jesu. In den meisten Bekenntnissen der Kirchengeschichte fehlen Worte Jesu, dafür dominieren dogmatische Aussagen über ihn. Darum sollten mündige Gläubige Freiheit beanspruc hen dürfen im Umgang mit dem überlieferten Bibeltext. Wenn daraus Impulse für die eigene Lebensgestaltung entstehen, so wird entsprechendes Handeln zu einem persönlichen Akt des Bekennens. Solches Bekennen aufgrund eigener Glaubenserfahrung ist jedenfalls mehr wert als das kollektive Nachsprechen unverstandener Formeln.

Max U. Balsiger, Meikirch

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