140-jährige Geschichte – Gratisdownload der Essays des prix libref. 2011


«Kann das Recht Religion vor liberalem Horizont beschränken?» lautete die Vorgabe des prix libref. 2011. Es entstand eine Publikation mit der Geschichte von libref. und drei Essays die sie kostenlos downloaden können

Preisträger ist Benedict Vischer. Wir gratulieren ihm herzlich. Seine Arbeit wollen wir ihnenn nicht vorenthalten. Flankierend werden noch zwei weitere Beiträge veröffentlicht, gewissermaßen „außer Konkurrenz“: Die Beiträge von Marcel Stüssi und Jean-Claude Cantieni.

Zum Download von «Kann das Recht Religion vor liberalem Horizont beschränken?»

Benedict Vischer
Benedict Vischer bei der Preisübergabe auf Schloss Reichenau

Geleitwort – die 140-jährige Geschichte von libref.

Der Schweizerische Verein für freies Christentum, im Medienzeitalter auf ‚libref.’ gepolt, existiert gestützt auf eine Konferenz in Olten von 1869 seit der damals beschlossenen Gründung von 1871, die in Biel erfolgte. Sie ist Dachorganisation zu den noch mehreren regionalen und kantonalen und lokalen Sektionen liberal gesinnter religiöser Kreise. Sein Gedankengut bezieht libref. vom jeweiligen Stand der liberalen Theologie her, die davon geprägt ist, dass in die Aufgabe und Würde jedes Einzelnen fällt, Gott zu suchen und zu finden und sein Leben auf Erden als Werkzeug Gottes danach zu gestalten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich das technologische Zeitalter einerseits und ein interkonfessioneller Kulturkampf riss anderseits Wunden auf, welche der Sonderbunds- als Sezessionskrieg der Innerschweiz geschlagen hatte. Die Verfassung von 1848 wurde damals manu militari durch die protestantischen Sieger dekretiert. – Worin anders, denn in einer Verfassungs-revison, konnten rechtmässige Zustände geschaffen werden, um zur Toleranz zu finden, die seit dem Dreissigjährigen Kriege des 17. Jahrhunderts so of geschmäht war? Das Freie Christentum Schweiz organisierte sich so als Lobby erfolgreich für Toleranzartikel in der Verfassung, so die Glaubensfreiheit, die zivile Ehe, und es setzte sich mit sozialen Fragen des Industriezeitalters auseinander, mahnte eine zentrale Aufsicht übers kantonale Erziehungswesen an. Rund 500 Mitglieder werden heute noch zu Hauptversammlungen eingeladen, ein letzt verbliebenes so genanntes „religiöses Milieu“ des Landes.

Der Verein versammelte ursprünglich gar Tausende Mitglieder zu „Reform-tagen“, daran auch Gäste verwandter Gruppen aus dem Ausland, Deutschland, England teilnahmen. Die Ära der Wochenende-Kolloquien folgte. Wissenschaftli-che und diakonische Engagements begleiteten die Vereinstätigkeit. Zentrales Publikationsorgan war bis vor Kurzem das „Schweizerische Reformierte Volksblatt“. In den Monatsschriften ist das freie Christentum seither in dem in Frankreich erscheinenden „Evangile & liberté“ präsent. Auf einem Blog informiert der Verein zur Zeit zu aktuellen religiösen Fragen, berichtet zu seinen Engagements und regt zum Diskurs darüber an.

Auch wenn sich die alten Fronten zwischen dem kirchlichen und dem freien Protestantismus aufgelöst haben und manche überkommenen Kontroversen heute nurmehr schwer verständlich sind, haben die aktuellen Entwicklungen im Bereich von Religion und Politik gezeigt, dass das Gedankengut des liberalen Protestantismus keineswegs überholt ist, sondern nach wie vor aktuell und wegweisend sein kann. Denn die Fragen der Versöhnung von Religion und Moderne, von Menschenwürde und Menschenrechten, des Respekts vor dem Einzelnen stellen sich im Bereich der Religionen heute mit grossem Nachdruck. Dabei sind diese Themen aber nicht mehr nur im Fokus der alten Mehrheitsreligion des Protestantismus zu behandeln, sondern in ökumenischer und vor allem auch in interreligiöser Offenheit. Um dieses Gedankengut wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken und auch weiterzuentwickeln, wurde 2008 der prix libref. Ins Leben gerufen, der wechselnd für besonderes Engagement und für wissenschaftlich-publizistische Leistungen auf dem Gebiet des liberalen Christentums vergeben wird. Erste Preisträgerin war 2008 an Frau Dr. Gret Haller, die für ihr Engagement zugunsten der Menschenrechte geehrt wurde, zumal damals als Hochkommissarin für Menschenrechte auf dem Balkan. 2011 wird ein prix libref. vergeben für ein Essay zum Thema: Kann das Recht die Religion vor liberalem Horizont beschränken. Preisträger ist Benedict Vischer, dessen Essay hier auch als erstes abgedruckt ist. Flankierend werden noch zwei weitere Beiträge veröffentlicht, gewissermaßen „außer Konkurrenz“: Die Beiträge von Marcel Stüssi und Jean-Claude Cantieni.

Der Verein hat sich liberal Denkenden Schweizern und Nichtschweizern von auch ausserhalb der Reformierten Kirche geöffnet, als deren liberaler Flügel sich der Verein nach seinem Selbstverständnisse und formell als Mitglied der Landeskirche versteht.

Reichenau, Eidgenössischer Dank-, Buss- & Bettag, 18. September 2011

Jean-Claude Cantieni für den Vorstand von libref.

Kapelle Schloss Reichenau

In der Kapelle auf Schloss Reichenau hörten wir die Predigt von Prof. Dr. Reiner Anselm:

Liebe Freunde,

der eidgenössische Buß- und Bettag, das Schloss Reichenau und die Generalversammlung von libref – wie passen diese drei Dinge zusammen? Auf den ersten Blick scheint es ja eher zufällig, dass wir uns nun gerade hier und an diesem Ort versammelt haben: Nach der Sommerpause, in einem Ort, der schön ist und noch dazu in der Nähe von Chur liegt, das eine aktive Gruppe von freien Protestanten kennt.

Wenn man aber einen Augenblick lang darüber nachdenkt, dann gibt es durchaus ein verbindendes Band zwischen diesen drei Elementen unseres heutigen Zusammenseins gibt: Das Innehalten und Nachdenken über den eigenen Kurs.

Innehalten und Nachdenken über den eigenen Kurs – das ist ja zunächst der Grundsinn, den wir als Protestanten mit Buße und Gebet verbinden. Beten kann ja nicht bedeuten, in einem magischen Sinne Gott zu beeinflussen. Wer wären wir denn als Menschen, wenn wir mit unserer kleinen Perspektive, mit unserem beschränkten wissen Gott zu etwas bewegen wollten? Beten bedeutet, sich selbst auszurichten auf die Botschaft des Evangeliums – und das ist nichts anderes, als einmal innezuhalten und sich über den eigenen Kurs wieder klar zu werden. Ganz ähnlich ist es bei der Buße. Auch hier können wir nicht mehr davon ausgehen, dass unsere Rituale in irgendeiner Weise Gott beeindrucken oder besänftigen können. Nein, für Christen gilt ganz grundsätzlich: Christus hat für uns alles vollbracht hat. Buße bedeutet aber wie schon das Beten, sich immer wieder neu darauf auszurichten, was das Evangelium von uns fordert. Dazu gehört auch das Eingeständnis, dass sich für uns immer wieder andere Dinge in den Vordergrund drängen, an denen wir meinen, uns orientieren zu können. Viel zu oft sind wir fest davon überzeugt, dass wir im Besitz der Wahrheit sind, dass wir wissen, wie’s geht. Viel zu oft wollen wir auch unsere Meinung anderen aufdrängen, gerade im Bereich der Politik, aber auch im Kleinen, in der Familie und im Alltag.

Innehalten und über den Kurs nachdenken, dafür steht auch unserer Versammlungsort. Schloss Reichenau, gelegen an der Stelle, an dem bei einer Alpenüberquerung der eigentliche Weg über die Alpen beginnt oder endet, verbindet sich mit zahlreichen Fragen nach dem rechten Kurs, verbindet sich auch mit dem Innehalten nach und vor einer besonderen Herausforderungen. Und als ein Ort, an dem die Erinnerungen aus vielen, vielen Jahrzehnten präsent sind, regt er auch uns in besonderer Weise an zum Nachdenken. Zum Nachdenken über unsere eigene Zeit, über unsere Herkunft und auch unser Ziel. Und er macht auf eine hilfreiche Art und Weise deutlich, wie sehr unsere eigenen Überzeugungen zeitgebunden, relativ sind und eben keine Absolutheit beanspruchen können. Überhaupt sind es ja die Erinnerungsorte, die nicht nur wach halten, was war und was uns prägt, sondern die auch die Begrenztheit jeder Zeit vor Augen führen. Erinnern, Gebet und Buße gehören darum eng zusammen.

Schließlich eine Generalversammlung. Ob es hier eine ganz einfache und ganz enge Verbindung gibt, die nämlich, dass der Vorstand angehalten ist, nach dem letzten Mandat von drei Jahren öffentlich Buße über seine Versäumnisse abzulegen, das überlasse ich Ihnen und vor allem der Versammlung heute Nachmittag. Aber das Nachdenken über den rechten Kurs, das Innehalten und sich neu orientieren, das gehört auf jeden Fall zu den wichtigen Funktionen einer solchen Versammlung.

Nachdenken über den Kurs, vergewissern der eigenen Wurzeln und der eigenen Ziele, das ist es also, das in meinen Augen den Tag, den Ort und unseren Anlass miteinander verbindet.

Nachdenken über den Kurs, suchen nach der Orientierung: Wer sich einmal im Nebel im Hochgebirge verlaufen hat, vielleicht noch auf einem Gletscher, der weiß, wie schwierig es ist, ohne äußere Anhaltspunkte, ohne Wegmarken und ohne Kompass die richtige Richtung wieder zu finden. Umso wichtiger ist es, dass wir uns immer wieder daran erinnern können, dass wir als Christinnen und Christen eine klare Orientierungsmarke haben: Die christliche Freiheit, die Freiheit, die untrennbar verbunden ist mit dem Leben und Wirken Jesu Christi.

Freiheit hat in unserer Zeit ja häufig nicht den besten Leumund. Freiheit steht häufig für ungezügeltes Handeln, für das Verfolgen eigener Interessen, zum Teil auch für Rücksichtslosigkeit – gerade im Bereich der Wirtschaft. Den Verfechtern der Freiheit unterstellt man nur zu leicht, sie würden sich nur nicht einschränken lassen wollen und sich aus der Verantwortung stehlen. Überall in Europa ist der Liberalismus daher in die Defensive geraten, zum Teil auch nicht zu unrecht, weil das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung, aber auch das Verhältnis von eigener Freiheit und der Freiheit der anderen, von Freiheit und Gemeinschaft nicht beachtet wurde. Freiheit und Gemeinschaft, Freiheit und Verantwortung sind nicht voneinander zu trennen.

Um sich daran zu erinnern, kann es helfen, sich immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass nach evangelischer Auffassung Freiheit nichts ist, das wir einfach so haben, das wir als unseren Besitz verstehen können. Christliche Freiheit ist immer geschenkte Freiheit. Und Freiheit als geschenkte Freiheit zu verstehen bedeutet, dass wir uns selbst nicht bloß als Einzelne oder als Individualisten wahrnehmen, sondern wissen, dass wir als Kinder der Freiheit mit anderen verbunden sind. Seine Freiheit zu gebrauchen ist daher immer verbunden mit der Erinnerung daran, dass es jemanden gibt, dem wir diese Freiheit verdanken. Und so wie wir die Freiheit als Geschenk bekommen haben, so sollen wir uns auch darum bemühen, sie anderen zu schenken. Dies allein schützt davor, sich einfach in den Mittelpunkt zu rücken und die Mitmenschen um uns herum zu vergessen.

Freiheit kann aber auch bedrückend sein. Wer frei ist, muss entscheiden, muss Verantwortung übernehmen. Wie süß klingen da doch immer wieder die Schalmeientöne, man müsse sich doch nur der Lehre, der Partei, der Gruppe anvertrauen und ihre Weisungen befolgen, dann könne man alle Unsicherheit über den eigenen Kurs vergessen. Freiheit, das spüren wir selbst und nehmen es uns in der Welt um uns herum auch immer stärker wahr, kann auch verunsichern, kann überfordern. Die Sehnsucht nach Gewissheit und nach Orientierung, die Sehnsucht aber auch nach Entlastung, dass ich nicht selbst alles entscheiden muss, ist daher oft der größte Feind der Freiheit. Darum gehören in meinen Augen zwei Dinge immer zusammen: Der Zuspruch der Freiheit und die Gewissheit, dass es etwas gibt, dass uns an der Verantwortung, die die Freiheit mit sich bringt, nicht zerbrechen lässt. Genau das war es, was die Reformatoren mit der Rechtfertigung allein aus Glauben zum Ausdruck bringen wollten. Genau das ist es aber auch, was Paulus meint, wenn er im 2. Korintherbrief schreibt: Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

Amen.

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Prof. Dr. Reiner Anselm
Lehrstuhl für Ethik – Theologische Fakultät
Georg-August-Universität Göttingen
Platz der Göttinger Sieben 2
D- 37073 Göttingen
Tel. +49 551 39 4968
mobil +49 179 5320 599
www.ethik.uni-goettingen.de

Vor einem Jahr:
Zum Gedenken an Anne-Marie Bianchi-Segon

Vor 2 Jahren erschienen:
Scientology – die Glaubensfreiheit hat nun Grenzen

Vor 3 Jahren erschienen:
Das Buddhistische Zentrum Wat Srinagarindravararam

Vor 4 Jahren erschienen:
«Wer nicht liberal ist, hebe die Hand»

Vor 5 erschienen:
Sikhs und eine Frage zur Religionsfreiheit

Vor 6 Jahren erschienen:
Orthodoxie und Gewalt im Islam

© libref – Zusammenstellung und Foto: Stephan MartiFinanzblog

Bethlehem – Teil I – die kleine Revolution


3027 Bern-Bethlehem dürfte dem Namen nach eines der bekanntesten Quartiere aller Schweizer Städte sein. Und zu Weihnachten ist das Sonderpostamt weltweit beliebt. Wenn möglich pilgere ich dieses Jahr zum 46 mal dorthin, denke an meine Jugendzeit zurück und versende meine Festtagsglückwünsche aus dem Tscharnergut mit einem liberalen Link zum Christentum.

Libref., das liberale Christentum feiert am Bettag anlässlich der Hauptversammlung und beim Verleih des prix libref. das 140. Vereinsjahr – gegründet 1871 in Biel – auf Schloss Reichenau.

Pinot Tscharnergut

Schlossherr ist der Winzer Gian Baptista von Tscharner, der unter anderem auch schon einen Pinot Noir mit dem Namen «Tscharnergut» ausbaut hat. Im «Tscharni», dem heutigen Zentrum von Bethlehem, bin ich aufgewachsen. Unser Präsident war vor kurzem im ursprünglichen Bethlehem. Grund genug diese beiden Orte im Schlossgarten zu präsentieren und Bündner Spitzenwein zu geniessen. Vielleicht gibt es sogar die zwei oben abgebildeten Spezialitäten zu verkosten. Wie wäre es wenn wir die nächste Versammlung in Genf machen – Apéro auf der Domäne Balisiers, zum Beispiel den namenlosen «Sine Nomine». Wer heute keine Trauben lesen oder geniessen kann, liest mit Genuss das Interview mit diesen beiden Spitzenwinzern über die damals noch fast unbekannte Weinausbaumethode mit dem Konzentrator.

3027 Bern-Bethlehem

3027 ist die höchste Postleitzahl einer Stadtberner-Quartierpost. Zumindest bei der Durchreise hat man den Eindruck, dass es auch das neueste Quartier sei. Die Poststelle befindet sich über 50 Jahre im heutigen Zentrum Bethlehems, im Einkaufszentrum des Tscharnerguts. 1959 hat man die Schwerkraft überwunden. Die Russen im kalten Krieg mit der ersten Raumsonde, die das Schwerefeld der Erde verliess und die Ideen von Hans Reinhard die den Grosssiedlungsbau revolutionierten.

Einkaufszentrum Tscharnergut

Weihnachtsstimmung vom Fellergut (Bümpliz) aufgenommen.

Einwohnermässig ist Bethlehem das 2. grösste Quartier der Stadt Bern – 12 500 Einwohner. Zahlen sind leicht gerundet. Bümpliz hat einen Viertel mehr.

Bethlehem

Einwohner je Quadratkilometer:

2600 im Kirchenfeld – nobel und für die Wohnqualität gelobt

5300 im Monbijou und in Bümpliz – Wohnqualität besser, als vermutet

9600 in der Länggasse – das feine Quartier, alteingesessen, Uni

10100 im Mattenhof – wo liegt der – zumindest nicht an der Aare

13850 im Breitenrain – grössere Grünflächen sind im Kasernenareal zu finden

2997 in Bethlehem – extrem viel öffentlicher Erholungsraum

Im Tscharnergut alleine sind es schätzungsweise 20 – 25 000. Nur hat es hier extrem viel Freifläche und es halten sich nie alle zusammen darin auf. Nicht nur Kinder und Jugendliche werden dafür benieden.

Tscharnergut

Das Westend in Wiesbaden hat 25′ und ist nicht mit dem West-End im Brünnengut von Bethlehem zu verwechseln. Schleichreklame sei bei diesem Link erlaubt. Unser einziges islamisches Mitglied (ohne Stimmrecht, das ist den Reformierten vorenthalten) und pakistanischer Bürgermeister kandidiert im Kanton Aargau für den Nationalrat – Dr. Yahya Hassan Bajwa.

Übrigens, der Distrikt Freguesia de Santo Antonio innerhalb von Macao hat eine Bevölkerungsdichte von praktisch 100’000 Personen. Heute gilt das Tscharnergut als weltweiter Meilenstein im Grosswohnungsbau. Am Anfang hatten es die Medien, vor allem das Schweizer Fernsehen mit Werner Vetterli und seiner Extremmanipulation schlecht gemacht. Deshalb vermutlich der Ausdruck «Vetterliwirtschaft» (s. 3. Link oben).

Heute hat Bethlehem den 2. grössten Ausländeranteil in der Stadt Bern. Nur im gelben und roten Quartier (Hirschenplatz bis Zytglogge) ist er grösser. Am Anfang war er im Tscharnergut sehr klein – Wohnungen waren knapp, man konnte auslesen. Und manche Familie mussten innert kürzester Zeit umziehen, weil Berner Baugeschäfte ältere Häuser aufkauften, Bauarbeiter einquartierten und später Neubauten mit mehr Wohnungen bauten. Sogenannte Renditeobjekte. In unserer ehemaligen 3-Zimmerwohnung in der Länggasse wurden über 20 (!) Italiener einquartiert. Das Wort «Menschenrechte» hätte es schon damals gegeben.

Auf obigem Bild sehen sie den Bahnhof Bümpliz Nord. Früher sogar offizielle Haltstelle des TGV nach und von Paris. Wenn das Bahnhofsgebäude auf der nördlichen Seite der Schienen liegen würde, hiesse er Bethlehem. Eine knallharte Grenzlinie wie sie in dieser Länge in der Schweiz vielleicht einmalig ist. Der Container-Zug der weltweit grössten Container-Schiff-Reederei aus der Gruppe Møller – Mærsk wird aber den Hafen auf dem Bethlehemer Quartiergebiet nie erreichen, obschon Bethlehem einen solchen am Wohlensee aufweist. Das einzige Quartier in der Stadt Bern mit zwei Seen. Der Weyermannshaus See, bis in die 50iger Jahre ein Naturteich, ist das grösste Beton-Schwimmbecken der Schweiz – mit Gratiseintritt.

In der Nähe im Nachbarquartier Holligen wird auf dem Europaplatz das Haus der Religionen errichtet. Mitinitiant ist der «Verein runder Tisch der Religionen» der sich seit 1993 aus den fünf grossen Weltreligionen und den Christ-Katholiken zusammensetzt und sich den gemeinsamen Alltagsproblemen in Bethlehem annimmt.

Tram

Bethlehem war eigentlich immer schon liberal den Religionen gegenüber. Und modern, was die Kirchenbauten anbelangt. Hinter dem jahrelang Schlagzeilen machenden Tram ist die Sankt Mauritius Kirche zu sehen. Eine katholische Kirche mit nur einer einzigen kleinen Glocke.

Kirche Bethlehem

Aber seien sie versichert. Selbst die kleinste Glocke der reformierten Kirche Bethlehem tönt reiner. Diese Kirche und mein Elternhaus haben mich mit dem liberalen Gedankengut geprägt. Mein Pfarrer war so liberal, dass er aus der Berner Kirche ausgeschlossen wurde. Eigentlich müssten wir Liberalen uns einsetzen, dass die Geschichte von Pfarrer Koch aufgearbeitet würde. Einer der besten Pfarrer, die ich je erlebt habe. Und Diskussionen gab es, denn wir waren nicht immer gleicher Meinung. Einen Sitzstreik vor dem Migros und dem ABM, dem zweiten als Providurium erstellten Einkaufszentrum im Tscharnergut, hat er abgesagt. Auf den Einkaufsrausch vor Weihnachten wollten wir aufmerksam machen. Wenn schon, hätten wir vor allen Läden einen Sitzstreik durchführen müssen. Aber sicherlich nicht nur vor Duttis Laden und schon gar nicht vor dem andern, der damals dem Kloster Einsiedeln gehörte. Und das Schönste kam dann noch. Irgendwann mal später habe ich erfahren, dass mein Vater hier im Kirchgemeinderat war. Alls Mitglied einer Kollegialbehörde hat er nie etwas über diese Geschichte erzählt.

«Herr Gott noch einmal», warum sind wir Liberalen so verklemmt und sagen unseren Kindern nicht, dass wir liberal sind und vor allem, was liberal ist. Letzten Montag war die Hauptversammlung der liberalen Sektion Langenthal und da bemerkte eine Dame: «Wieso macht ihr nicht Werbung, um unsere Kinder als Mitglieder zu werben. Vor über zehn Jahren, als ich deren Präsident war, haben wir das gemacht. Resultat – kein einziges zusätzliches Mitglied. An der Versammlung wurde auf ein Grosskind aufmerksam gemacht, das eine Berndeutsche CD herausgegeben hat. Wenn er Mitglied wird (CHF 8.– je Jahr), dann bin ich bereit, ein Konzert mit ihm für libref. durchzuführen. Vermutlich wird er diese Zeilen nie lesen, denn die liebe Grossmutter wird rein statistisch gesehen nicht den Mut aufzubringen, über die liberale reformierte Kirche zu sprechen und ihn anzuwerben. Meine Kinder wissen, dass ich (und sie) liberal sind. Mitglied werden scheint für die meisten Liberalen kein Thema zu sein. Schliesslich ist man nicht der Kirche sondern dem reformierten Glauben verpflichtet. Echte, nicht bekennende Liberale eben mit einer abendländischen Kultur.

Zuviel Nebensächliches, das ja eigentlich das Leben prägt? Dann lesen sie eben quer. Ich erlaube mir hier meine Gedanken zu meinem Buch aufzuschreiben, das langsam aber sicher sich von den Strukturen her abzeichnet. Jetzt beim Schreiben höre ich im Radio Chuck Berry – my Dingeling. Beautifull, zumindest so Chuck. Die Originalversion dauert länger, als ich Zeit habe, in Reichenau über das Tscharni und Bethlehem zu sprechen.

1970 hat Pfarrer Koch in der Kirche Bethlehem ein Rock-in-Church Konzert durchgeführt. Ich konnte das erste für Langenthal rund 30 Jahre später ganz revolutionär (!?) zum etwa 45-jährigen Bestehen des Rocks durchführen. Zeit, um in die Geschichte einzugehen.

Der Beginn des Tscharnerguts ist auf das 17. Jahrhundert einzustufen. Ein von Tscharner hat von von Erlach das Fellergut übernommen …

Fellerstock

… und eine Allee führte ins heutige Tscharnergut. Die trennende Eisenbahnline trennte noch nicht. Geplant war vor Jahrzehnten eigentlich der grösste Flugplatz der Schweiz. Wechseln wir zum Velo. Mein Schulweg führte fünf Jahre an den Überbleibseln dieser quartierverbinden Strecke vorbei. Links war Scapa, , das alte und das neue Schloss Bümpliz und unter uns – fünf Stöcke genau – Ändu …

Patent Ochsner - Stadt Bern

… er wohnte im 9. Stock Büne Huber mit seiner W. Nuss vo Bümpliz. Genau genommen in dieser Zeit eher bei seinen Eltern mit Muschle, seiner Schwester. Irgendwie kommt mir jetzt mein Bruderherz in den Sinn. Ganz patent, an seinen Texten zu beurteilen ein echt Liberaler. Aber vermutlich weiss er das nicht. 95% aller Liberaler wissen nicht, dass sie liberal sind. Ja, da war noch der nicht ganz liberale Pfarrer vom vergangenen Samstag, der manchmal nur drei Kirchgänger hat. Der sagte was extrem Tiefgreifendes. «Liberal oder nur Distanziert?»

Gehen wir wieder auf Distanz oder werden wir nah zum Geschehen. Je nach Blickrichtung. Das Schloss Reichenau mit dem Nachfahren derjenigen die dem Tscharnergut den Namen geben haben, leben denkmalfreier. Meine beiden ehemaligen Zuhause in Bern-West …

Waldmannstrasse 61 - Tscharnergut

… sind heute denkmalpflegerisch und geschichtlich interessanter. 9/11 würde es im Schweizer Bethlehem nie geben. Ranglistenmässig sind die fünf 20ig-stöckigen Wolkenkratzer mit rund 50 Metern Höhe auch nur Winzlinge. Wenn wir die Zählart der Chinesen brauchen, sind es deren 13. Weltweit gibt es 6oo Wolkenkratzer über 200 Meter, 50 mit mehr als 300 Metern und der islamische Buri Khalifa in Dubai ist mit 828 Metern am höchsten … aber die höchste Kirche steht in Chicago. Zehn Meter höher als die «echte Kirche», das Ulmer Münster und noch mal 30 dazu für das Minaret der ‏مسجد الحسن الثاني‎ in Marokko

Ja, dann gibt es noch ein weiteres Bethlehem (ganz unten) in der Schweiz. Genau genommen in Schwyz. Ruedi unser Revisor wurde Ende Juli im Rollstuhl daran vorbei gestossen. Er konnte meine Rechnungen nicht mehr revidieren. Seine Frau hat die Karte geschrieben. Ich kann ihm nachfühlen, weiss wie es ist, gerollstuhlt zu werden, nicht schreiben zu können, auf andere angewiesen zu sein. Ruedi, ich kann heute wieder relativ gut selbst gehen und schreiben. Langsamer zwar und mit viel mehr Tippfehlern. Ds Hirni isch viu schnäuer aus d’Finger u de due i mi haut mängisch verbuchstable – sorry. Gnies das wo us Richenau chunt.

Und die andern müssen sich gedulden, bis ich über den zweiten Part von Bethlehem etwas ins Blog stellen werde. Ja unser Präsident muss mir halt die digitalen Unterlagen nachreichen und ich werde den Bettag ausdehnen und noch drei Tage rund ums Bündnerland die Welt erkunden. Und merken sie sich: Beten allein hilft nicht, an sich glauben und kämpfen ist wichtig. Und wenn ich Glück habe, treffe ich als Liberaler auf meinen Reisen Pfarrer Klaas Hendrikse der sagt «Es gibt keinen Gott» oder auf die vikarische Bloggerin Carla Maurer in ihrem Jahr als Vikarin.

Glockenturm

Beim Glockenturm im Tscharnergut findet keine Bettgspredigt statt. Der hat mit der Kirche nicht viel gemeinsam, aber mit unserem Glauben. Übrigens, ein ausführliches und lesenswertes Dokument. Nehmen sie es bitte ihr und allenfalls auch mir nicht übel, wenn Zahlen nicht korrekt sind. Diese sind schon für Bethlehem fast nicht zu bekommen, geschweige denn für eine der vier Hochhaussiedlungen in diesem Quartier. Und falls sie die drei heiligen Könige suchen – Kaspar, Balthasar und Melchior – die findet man nicht im Tscharnergut, wohl aber in Bethlehem.

Liberale, verbindet euch, zusammen wären wir stark. Wir müssten nur Farbe bekennen.

Hahn

Einen speziellen Gruss noch von unserem etwas griesgrämig dreinschauenden «Wappentier» aus dem Tscharnergut-Zoo

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Die notwendige schöpferische Pause

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© libref – Text und Foto: Stephan MartiFinanzblog