Kant und die Religion heute Morgen


Hörte den Vortrag meines Vorvorgängers Pfr. Peter Niederstein in der Arbeitgemeinschaft Freie Theologie im Hotel ‚Stern’ in Chur «Kant und die Religion’ heute morgen».

Der Referent votierte gestützt auf Kant, für eine Religion, die Geschichte reflektiert, welche das Leben erzählt, statt Predigen von Dogmen. Am Anfang war die Tat, welche durch das Gewissen, Ehrfurcht vor dem Geschaffnen, angeleitet ist. Die anschliessende Diskussion spitzte sich auf unser heutiges Reden in Religion zu: Was heisst denn heute bspw. ‚Gottessohn’, der Sohn von Gott? Wie weit darf Spatzung zwischen Naturwissenschaft und Glauben im Reden gehn, ohne, dass Missverständnisse entstehn, die letztlich zu Glaubenskriegen führen, seit auch Atheisten zu Missionaren geworden sind. Gertrud von le Fort hat sich in ihrem schmalen Büchlein ’Am Tor des Himmels’ mit der Redensart zwischen Glauben und moderner Wissenschaft beschäftigt. Ich habe die Diskussion damit aufgenommen und sie ganz zum Schlusse auf unsern Diskussionsstoff an der Synode in Bivio zugespitzt:

Gertrud von le Fort (genannt: Gerda von Stark) in ‚Am Tor des Himmels’ (nach «Sehr geehrte Damen und Herren»: ‚Ich glaube, Sie als Naturwissenschaftler fürchten sich davor, Gott wieder zu finden, nachdem er im All nicht mehr zu entdecken ist.’ Naturwissenschaftler: ‚Ja, vielleicht ist es so: Wir fürchten uns, denn wir stehn überall an den äussersten Grenzen, und wenn wir wieder zu Gott fänden, könnten wir ihn nicht mehr in unsere Kausalitätsgesetze einschliessen – dann würde es ein Gott sein, der wirklich etwas zu sagen hätte. – Aber einstweilen ist es noch nicht so weit, also nützen wir unsere Freiheit.’

Ob das Problem der verschiedenen Aussage- bzw. Erklärungsweisen zur selben Welt eines ist, das damit zu tun hat, dass der Logos des Johannes-Evangeliums ‚am Anfang war der (Wort-)’logos’ sich strikt an die Sprache, ihre grammatikalischen Regeln, gebunden hat, ohne dass beachtet bleibt, dass die Sprache sich dadurch auszeichnet, dass sie von endlichen Mitteln einen nach oben offenen Gebrauch zu machen hat? Was ist verschwunden, als das Bewusstsein in Sprachformeln zu diktieren begann, was wahr glauben heisst? Wie kommen wir zu einer Archäo-Logie zurück, d.h. zum Ausgangspunkt des Logos ‚zurück’ bzw. eher vorwärts, um zu einem Glauben zu finden, welcher den amorphen Dunst des Religiösen von ‚Sohnesschaft Gottes’ lichtet und der Wirklichkeit eine kohärente Form verleiht, nachdem die Vernunft sich an die Rationalität der Sprache heute binär klammert? Gilt es, den Grad Null wieder zu finden, re-ligere, an welchem menschliches Erfahren noch nicht geteilte Erfahrung der Teilung zwischen Glauben, Irren selbst in schriftlicher Fixierung, Dogma, ist, jene Gnade der Stunde von Einheit in Geschichte, Sprache einzuholen, Vorsehung in der Zeit in einer Sprache zu denken, in welcher noch nicht verschwunden ist, was erodierte, als die Vernunft das Wort im Sinne des Logos als das Wort ergriff? Ob wir dann zwangsläufig bei der faustischen Tat anstelle des Wortes landen?

‚Unser’ Bündner Richard La Nicca, Pfarrersohn und erster Ingenieur, welcher dem damals jungen Kanton Graubünden eine integrale Kulturlandschaft schuf (1. Drittel 19. Jahrhundert) schrieb sinngemäss: ‚Die Tat, das bin ich’, und auch, dass er sich als ‚nützliches Werkzeug Gottes auf Erden’ empfinde – eine glaublich bemerkenswerte Personifizierung, welche sich in der Bibel in verwandter Weise findet, wenn Christus sagt: ‚Ich bin der Weg, die Wahrheit & das Leben.’ Weg (zur Tat?) ist erste Person Einzahl. Die Franzosen haben’s einfacher als wir. Sie kennen das ‚sujet’ für das Subjekt einerseits und den Stoff, um den es ihm geht, ebenfalls als sujet, vielleicht, weil wir Menschen (anders denn das Tier) im Leben eine Aufgabe vorfinden, mit welcher wir uns zu identifizieren haben. Unser Dasein ist unsere eigne Aufgabe unter dem Verdikt von Selbsterhaltung als eine selbstverständliche bzw. natürliche Verpflichtung vor uns selbst. Ob wir heute noch Werkzeug Gottes sind? Vielleicht, dass Nietzsche recht hatte, als er Gott eine zu stark gewordne Hypothese für den modernen Menschen mit seinem Weltbild, seiner technisierten Welt bezeichnete. Was hat die Metapher vom Gottessohn sprachlich heute noch für einen Inhalt? Diesen Inhalt gab’s zwar einmal: Als Menschen sich von Naturgefahren bedrängt fühlten, sich existenziell ängstigten, je weiter zurück wir die Geschichte verfolgen je mehr, in Opfern ihre sündig geglaubte Seele entlasteten, war ‚Gottessohn’ eine lebenserhaltende Projektionsfläche, welche dem Verängstigten half, den Armen davor bewahrte, in Nichtigkeit zu fallen. An die stelle des Leidens für eigne oder fremde Schuld trat seither die Tat: La Nicca bändigte den mäandrierenden Rhein im Domleschg. Dieselbe Entlastung, welche Menschen brauchen, steckt auch in der Kreuzestheologie, die Kant (später Nietzsche) angriff. Leiden erlöst seit Holocaust und Hiroshima kaum mehr.

Die Naturwissenschaft erfindet fortlaufend. Längst alles ist nicht wahr, doch so sehr wahr, dass es funktioniert, während die Theologie glaublich immer noch am Primat des Wissens festhält. (In der Universität ist die theologische Fakultät zuerst aufgelistet.) Ein letzter fundamentalistisch anmutender Winkel ist keineswegs ausgeräumt. Religion ist deshalb verhalten, zu Symbolen bzw. Ideenfluchten zu greifen, wo Geschichten, in welchen das Leben selber erzählt, vielleicht religiös erhellender wirken, auch wenn sie nicht ganz wahr sind: Ob all die Geschichten um Franz von Assisi wahr sind: Was spielt das denn für ein Rolle? Loslassen ist die Parole, nicht einzig bei den Psychologen. So, frei formuliert, Gertrud von le Fort, wenn sie schreibt, dass man die Geschicke des Glaubens Gott anheim geben sollte – statt, bleibt zu komplementieren, Ihn in eine sprachlich cartesianische Denkgeste zu zwängen, die sich anheischig machte, für allen Zweifel bzw. Irr-Glauben von Häretikern an der Welt kompetent zu sein. Papst Benedikt erscheint als ehemaliger Dozent, Lehrer, in seiner neuen Jesus-Biographie gefangen in diesem davon herrührenden perfektionistischen Schema: Die Seelen der Häretiker (von griechisch hairesis, wählen) irren, doch sie sind ‚letztlich’ belehrbar. Sache der Religion, seiner, des Papst, Religion, ist, den Irrtum im Glauben Andersgläubiger zu durchdringen. Dieses Dogma, der Irrglaube muss verstanden werden, hat die Wissenschaft durch die Religionsgeschichte wie die der Psychologie, Psychoanalyse vorangetrieben (vide M. Foucault). Was ist da alles an Erfahrungen des Glaubens auf der Strecke geblieben, bis wir heute ‚Gottessohnesschaft’ buchstabieren? Eine neue Aufklärung tut not, die von Paternalismus, Utilitarismus & Perfektionismus abstrahiert, die alle drei obsolet sind, wenn unter den Menschen religiöser Friede etwa mittels einem Fairplay als Gerechtigkeitsidee, deren Rolle ist, den heute verschiedenen Vorstellungen von Gerechtigkeit zusammen zuzukommen, liberal zu walten hat. Wir verbinden mit diesem Postulat, dieser Obligation, diesem Obligo als Religio, dass der religiöse Friede mit Menschenrechten & -pflichten verbunden wird, er aus dem Himmel unter die Menschen mühlselig-gnädig unters Kreuz gekrümmt wird. – Selig bleibt selig, Kreuz bleibt Kreuz, ohne, dass Blut –weiters – fliesst. Der Traum Kants, Verheissung ewigen Friedens würde sich dann doch noch erfüllen, auch wenn auch Kreuz Kreuz bleibt.

Text: Jean-Claude CantieniChur

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