So haben die Kenner nach der Papstwahl die Haupteigenschaften des Neugewählten charakterisiert. Wir wollen ihnen gerne glauben und in Zukunft beobachten, wie diese Eigenschaften angewendet werden. Vorläufig haben wir einige Mühe, zu verstehen, wie ein mit den genannten Qualitäten begabter Mensch übereinstimmen kann mit all dem, was der Wahlvorgang bedeutet für die Erfüllung seiner neuen Funktion und deren Protokoll. Dies alles ist doch verdächtig, jedenfalls aus einer streng evangelischen Sicht. Wie kann er behaupten, er wolle sich einsetzen für die Einheit der Christen, wo er doch wissen muss, dass allein die Existenz eines Papstes, wie ihn die Kirche Roms versteht, eines der wichtigsten Hindernisse auf dem Weg der Ökumene ist? Wie konnte er als 78-Jähriger die Wahl annehmen, wo doch seine Bischöfe mit 75 Jahren zurücktreten müssen? Aber vielleicht hat er noch eine Überraschung bereit, die ein Zeichen wirklichen Scharfsinns wäre und das Bild, das das Papsttum von sich selbst gibt, merklich verändern würde: demissionieren, sobald er die Kräfte auch nur ein wenig schwinden fühlte, die Kräfte, die ihm zur Zeit anscheinend noch zur Verfügung stehen.
Aber wir haben auch vor der eigenen Türe zu wischen, wie Jesus es geboten hat; beachten wir den Balken, der uns die Sicht verdeckt und uns hindert, unsererseits möglichst „intelligente und gute Theologen“ zu sein. Der amerikanische Theologe John Adam hat im Blick auf den Protestantismus in seinem eigenen Land kürzlich geschrieben: „Für die meisten Zeitungsleser ist der Name ‚Christ‘ gleichbedeutend wie ‚konservativ‘. Vor etwa einer Generation beschrieben die Wörterbücher eine ‚christliche‘ Person als ‚humanistisch‘ und ‚ehrwürdig‘; heute verbindet sich mit diesem Begriff der Gedanke an geistige Enge, Dünkel und Frömmelei.“
Nicht alle Christen, Protestanten und Katholiken fallen glücklicherweise unter dieses wenig erfreuliche Verdikt. Jeder soll Umschau halten, ohne sich selbst zu vergessen, um festzustellen, wer diesem Bild entspricht. Viel besser wäre aber, die Worte Albert Schweitzers zu beherzigen: „Das Christentum kann das Denken nicht ersetzen, sondern muss es voraussetzen. Der denkende Mensch steht der überlieferten religiösen Wahrheit freier gegenüber als der nichtdenkende; aber das Tiefe und Unvergängliche, das in ihr enthalten ist, erfasst er lebendiger als dieser.“
Und wenn Benedikt XVI. diesem grundlegenden Punkt zustimmen würde?…
Bernard Reymond in „Le Protestant“ Nr.5/2005, JAB 1211 Genève 4
(Übersetzung M.U.Balsiger)